tschasee - NASA-FotoDie beiden Nachrichten haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Die nigerianische Armee hat Mitte Mai eine Offensive gegen die islamistische Aufstandsbewegung Boko Haram im Norden des Landes begonnen, und der Ministerrat der vier Anrainerstaaten des Tschadsees hat Anfang Mai ein Projekt auf den Weg gebracht, um Wasser aus einem Kongozufluss in den Tschadsee umzuleiten. Aber die politisch-soziale Krise und die ökologische Situation am schrumpfenden Tschadsee hängen aufs Engste zusammen.

Abdullahi Umar Ganduje, Exekutivsekretär der "Lake Chad Basin Commission", warnte im Januar 2013 gegenüber der Nachrichtenagentur IPS: "Wenn der Tschadsee austrocknet, haben 30 Millionen Menschen keine Lebensgrundlage mehr, und dies ist ein großes Sicherheitsproblem, weil der Kampf auch um kleine Wassermengen zunimmt." Der Leiter der gemeinsamen Kommission der Anrainerstaaten des Sees fügte hinzu: "Hunger und Armut werden zunehmen. Und wo es nichts zu essen gibt, da gibt es fast zwangsläufig Gewalt."

Der Tschadsee hatte einmal die Größe von 300.000 bis 400.000 Quadratkilometern, also etwa die Fläche Deutschlands. Das ist 6.000 Jahre her. Seither ist der See stark geschrumpft, und dieser Prozess hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch beschleunigt. Hatte der See Anfang der 1960er Jahre noch eine Fläche von 25.000 Quadratkilometern, so sind dies inzwischen jahreszeitlich schwankend kaum mehr als 1.500. Da die durchschnittliche Wassertiefe lediglich zwei Meter beträgt, ist die Anfälligkeit für ein weiteres Schrumpfen hoch. Der See hat vier Anrainerstaaten: Nigeria, Niger, Kamerun und Tschad, inzwischen gibt es von Nigeria und Niger aus aber kaum noch einen Zugang zum See. Frühere Küstenorte sind inzwischen Dutzende Kilometer vom neuen Ufer entfernt.

Die Gründe für das Schrumpfen des Tschadsees sind gründlich untersucht worden und weitestgehend unstrittig. Ein Hauptfaktor ist der Klimawandel, der am See und in den Quellgebieten seiner Zuflüsse zu höheren Durchschnittstemperaturen und verminderten Niederschlägen führt. Die Wassermenge aus den Hauptzuflüssen Chari und Logone sinkt ständig. Neben dem Klimawandel tragen dazu auch die Ausweitung der Sahara nach Süden und eine hohe Verdunstung in den Stauseen großer Staudämme an den Flüssen bei.

Tschadsee - NASA-Fotos

Ein besonders wichtiger Faktor ist die starke Ausweitung der Bewässerungslandwirtschaft an den Zuflüssen und am See. Dies ist der Kommerzialisierung der Landwirtschaft geschuldet und ebenso der Tatsache, dass der Regenfeldbau wegen der geringeren und unzuverlässigeren Niederschläge immer risikoreicher wird. Die Konkurrenz unter den Ackerbaufamilien wird dadurch verschärft, dass manche frühere Viehzüchter durch Dürren ihre Herden verloren haben und nun ein neues Auskommen in der Landwirtschaft suchen. Die knappen Wasserressourcen werden in diesem Konkurrenzkampf völlig übernutzt. Der Wasserstress erhöht sich noch durch das rasche Bevölkerungswachstum in der Region trotz der Abwanderung vieler junger Leute mangels beruflicher Perspektiven.

WIE GEWALT ENTSTEHT – UND WIE SIE NICHT BEENDET WERDEN KANN

Die berufliche Perspektivlosigkeit hat manche jüngere Leute veranlasst, sich radikalen islamistischen Bewegungen anzuschließen. Die bedeutendste von ihnen ist Boko Haram, eine Aufstandsbewegung, die im Norden Nigerias einen islamischen Staat errichten will. Boko Haram arbeitet mit ähnlichen Bewegungen in den Nachbarstaaten am Tschadsee zusammen, und es gibt auch Verbindungen zu den islamistischen Kräften im Norden Malis.

Es ist Boko Haram seit Anfang des Jahres gelungen, die Regierungsstrukturen in einigen Landkreisen im Norden Nigerias zu zerstören und mit rücksichtsloser Gewalt die eigene Herrschaft zu festigen. Im April und Mai 2013 erreichten die Auseinandersetzungen einen Höhepunkt, als die Aufständischen bei Angriffen auf Armeekasernen, Polizeiwachen und Gefängnisse mehr als 250 Menschen töteten. Die nigerianische Regierung gab daraufhin ihre Versöhnungspolitik vorerst auf, und die Armee eröffnete unter Einsatz schwerer Waffen und Kampfjets eine Gegenoffensive. Dabei wird nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen mit beträchtlicher Brutalität vorgegangen.

In die Kämpfe verwickelt ist auch eine gemeinsame Militäreinheit der Anrainerstaaten des Tschadsees. Sie war ursprünglich als multilaterale Militäreinheit zur Verminderung von Konflikten in den Grenzgebieten gegründet worden, hat inzwischen aber auch das Mandat zum Kampf gegen den Terrorismus. Die sich ausbreitende Gewalt veranlasst Tausende nigerianischer Familien, in den Süden ihres Landes und die Nachbarstaaten zu flüchten.

Angesichts der Verfügbarkeit einer großen Zahl moderner Waffen werden zudem die schon länger bestehenden Konflikte zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern um das verbliebene Wasser und fruchtbare Land nun viel gewaltsamer ausgetragen. Erwähnt werden müssen auch die Auseinandersetzungen um die landwirtschaftlichen Flächen, die auf trocken gefallenem Seegrund neu entstanden sind. Vor allem im nigerianisch-kamerunischen Grenzgebiet ist es immer wieder zu Konflikten darüber gekommen, welches Land wem zusteht.

Die ohnehin bescheidenen wirtschaftlichen Aktivitäten in der Region haben durch die Kämpfe weiteren Schaden genommen. Schon vorher hatte der Niedergang des Fischfangs am schrumpfenden Tschadsee viele Arbeitsplätze gekostet. Das hat die Ressentiments der Menschen im Norden von Nigeria und Kamerun erhöht, gegenüber dem Süden ihrer Länder wirtschaftlich vernachlässigt zu werden. So lässt sich kein Frieden schaffen, sind viele Gruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft in der Region überzeugt.

EIN WASSERTRANSFERPROJEKT UND SEINE FOLGEN

Auch den Regierungen ist bewusst, dass sie den Kampf gegen Aufstandsbewegungen in der Region am Tschadsee nicht allein mit militärischen Mitteln gewinnen können. Bei dem Bestreben, die wirtschaftliche Entwicklung endlich voranzubringen, spielt das Projekt zur Umleitung des Wassers des Oubangui eine wichtige Rolle. Der Oubangui gehört zu den wichtigsten Zuflüssen des Kongo, und nach der Lesart der Befürworter des Umleitungsprojekts fließt das Wasser bisher ungenutzt in den Atlantik.

Tschadsee 2011 - NASA-Foto

Ob die geplante Umleitung auf die Zustimmung der Anwohner des Kongo stoßen wird, muss dennoch bezweifelt werden. Dies um so mehr, als in der Demokratischen Republik Kongo größere Staudammprojekte geplant sind, die bei ihrer Verwirklichung den Fluss stark verändern und die Wassermenge am Unterlauf des Flusses vermindern werden. Auch wird der Klimawandel – gekoppelt mit großflächiger Abholzung von Regenwaldflächen – das regionale Klima im Kongobecken negativ beeinflussen, ein Prozess, dessen Folgen für den Fluss Kongo nicht vorherberechenbar sind. Wassertransferprojekte in Ländern wie Indien und Brasilien waren bisher stets mit heftigen sozialen und politischen Konflikten verbunden. Es ist unwahrscheinlich, dass dies in der ohnehin konfliktreichen Region am Tschadsee und Kongo anders sein wird.

Das Projekt der Wasserumleitung soll nach einer optimistischen Prognose 14,5 Milliarden Dollar kosten. Kommt eine Finanzierung zustande, soll in etwa fünf Jahren mit den Bauarbeiten begonnen werden. Erforderlich ist vor allem ein Kanal, der den Oubangui mit einem Zufluss des Tschadsees verbindet.

Am Tschadsee selbst birgt das Umleitungsprojekt erhebliche Risiken. Zunächst einmal darf die Aussicht auf diese Lösung aller Wasserprobleme kein Anlass sein, dringend gebotene andere Vorhaben wie die Einführung effizienterer Formen der Bewässerungslandwirtschaft zu vernachlässigen. Außerdem entsteht neuer Konfliktstoff, wenn sich der Tschadsee durch das umgeleitete Flusswasser wieder ausdehnt und viele nach seiner Austrocknung neu entstandene Felder und Dörfer wieder überflutet werden. Und dass nach Fertigstellung des Umleitungsprojektes zusätzlich Landwirtschaftsflächen von bis zu 70.000 Quadratkilometern bewässert werden sollen, lässt befürchten, dass mehr Wasser nicht unbedingt zu weniger Knappheit und weniger Konflikten am Tschadsee führen wird.

Fotos: NASA

Frank Kürschner-Pelkmann arbeitet als freier Journalist und betreibt u.a. die Website www.wasser-und-mehr.de.

 


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