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Berlin. - Die Journalistenorganisation "Reporter ohne Grenzen" (ROG) ist besorgt über Einschränkungen der Pressefreiheit auch in traditionellen Demokratien. Regierungen wie die der USA und Großbritanniens rückten "investigative Journalisten und ihre Hinweisgeber mittlerweile in die Nähe des Terrorismus", kritisierte ROG-Vorstandssprecher Michael Rediske bei der Vorstellung der "Rangliste der Pressefreiheit" 2014 in Berlin. Das war am 12. Februar vergangenen Jahres - und ist nach den Terroranschlägen auf "Charlie Hebdo" in Paris offenbar schon wieder in Vergessenheit geraten.

Die USA ließen nach dem Bekanntwerden der ersten Enthüllungen von US-Whistleblower Edward Snowden Telefonanschlüsse der Nachrichtenagentur Associated Press ausspähen. Die britische Zeitung "The Guardian" wurde gezwungen, Festplatten mit Informationen von Snowden zu zerstören. Die US-Geheimdienste versuchten, beim deutschen Bundesverfassungsschutz Auskunft über einen deutschen Reporter zu erhalten. Der niedersächsische Verfassungsschutz überwachte Journalisten mehrere Jahre lang. Der Bundesnachrichtendienst gibt massenhaft Daten an den militärischen Geheimdienst der USA (NSA) weiter, auch und gerade über Journalisten. Deutsche Bundesregierungen und Parlamente höhlten die Pressefreiheit aus, indem sie die Auskunftspflicht von Bundesbehörden abschafften und das "Informationsfreiheitsgesetz" verwässerten.

Für die Bürger fundamental wichtige politische Prozesse wie die Verhandlungen der Europäischen Union über die Freihandelsabkommen TTIP (mit den USA) und CETA (mit Kanada) werden geheim geführt. Nur auf Druck durch Medien und NGOs werden allmählich Dokumente freigegeben. Vielleicht benötigt die Politik deshalb Ereignisse wie die Anschläge auf "Charlie Hebdo" in Paris, um der Öffentlichkeit demonstrieren zu können, wie sehr sie doch für Presse- und Meinungsfreiheit, Demokratie und eine "offene Gesellschaft" eintritt. Gleichzeitig kommt der unvermeidliche Ruf nach einer Verschärfung der Massenüberwachung durch die "Vorratsdatenspeicherung".

Nachtrag: Am Donnerstag (15. Januar) berichtete Glenn Greenwald, dass in Frankreich ein Mann für einen Facebook-Beitrag verhaftet wurde: 

"Forty-eight hours after hosting a massive march under the banner of free expression, France opened a criminal investigation of a controversial French comedian for a Facebook post he wrote about the Charlie Hebdo attack, and then this morning, arrested him for that post on charges of “defending terrorism."

Zur moralischen Frage, was Satire darf und was nicht, hat Entwicklungspolitik Online schon im Jahr 2006, nach dem "Karikaturen-Streit" um die Veröffentlichung von einem Dutzend Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung "Jyllands-Posten" Stellung bezogen. Die Publikation hatte damals Massendemonstrationen in der gesamten islamischen Welt hervorgerufen. Der Westen trat daraufhin geschlossen zur "Verteidigung der Pressefreiheit" an, wie am Sonntag in Paris mit rund 40 Staats- und Regierungschefs. Dem Kommentar von damals - "Clash of Cultures: Die Pressefreiheit als Vehikel im Karikaturen-Streit" ist nichts hinzuzufügen.

 

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Hannah Höch, Journalisten, 1925. Berlinische Galerie, Berlin

 
Einige Zitate aus dem Kommentar zum "Karikaturen-Streit" vom 10. Februar 2006:

Westliche Mainstream-Nachrichtenagenturen und Kommentatoren machten aus dem eigentlichen Anlass flugs eine Grundsatzdebatte um die "Pressefreiheit". Kein Gedanke mehr an die "embedded journalists" im Irak, die nur so viel Wirklichkeit des Krieges zu sehen bekommen, dass sie hurrapatriotische Berichte in die USA senden können. Kein Wort mehr darüber, dass die Mainstream-Medien in Europa wie in den USA von ihren Regierungen nach Strich und Faden belogen wurden, als es um die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak und damit um die Begründung für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen das Saddam-Regime ging.

Richtig ist, dass die Menschen in den islamischen Ländern sich seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich gedemütigt fühlen. Der Westen, allen voran die selbsternannte "Führernation" USA, setzt in allen Bereichen die Agenda. "Freie" Marktwirtschaft, Demokratisierung, Abbau souveräner nationaler Rechte im Rahmen der Vereinten Nationen, Abhängigkeit von Krediten westlich dominierter internationaler Finanzinstitutionen wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF), Sanktionen gegenüber unbotmässigen "Schurkenstaaten" wie Sudan, Iran, Kuba etc.

Religion und Kultur, mithin die traditionellen Werte-Cluster, sind die letzten Zufluchtsstätten von Gesellschaften, die zumindest mittelfristig zu den Verlierern globaler Prozesse wie der Modernisierung und wirtschaftlichen Globalisierung zählen.

Insofern hat Samuel P. Huntington (The Clash of Civilizations) recht, wenn er - schon 1993 - diesen Bereich zum globalen Feld derzeitiger und künftiger Auseinandersetzungen macht. Der Kapitalismus als alleinige, westlich geprägte Ideologie und als bestimmendes Wirtschaftssystem dominiert mehr und mehr alle Facetten des Lebens, traditionelle Werte geraten ins Wanken. An ideologischen Gegenentwürfen wie dem Sozialismus und Kommunismuns orientieren sich nur noch ein paar Splittergrüppchen und politische Sekten. Auf der Suche nach Identität besinnen sich auch junge Menschen wieder ihrer Kultur und Herkunft, ihrer Religion, Sprache, Sitten und Gebräuche.

Eben dieser "Way of Life" ist jedoch das Feld, das die Vereinigten Staaten von Amerika seit jeher besetzen möchten, auf das sie stolz sind, das sie zur Nation formte, das zum Exportschlager wurde. Coca Cola, Hollywood, McDonalds, Marken-Jeans, Rap-Musik und Donald Duck haben ihren Siegeszug um den Globus angetreten und verdrängen mit ihrer Marketing-Macht traditionelle Produkte und Wertvorstellungen. Fast Food statt Siesta, Alco-Pops statt Kokablättern, Kat oder Opium. Die Welt berauscht sich - je nach Gusto - an der freien Entfaltung der Persönlichkeit oder bloß am Konsum, an Pornographie oder Bigotterie, an Wildwest- oder Kriminalfilmen - und an ihrer eigenen Scheinheiligkeit.

ep graff 150Die neoliberale Form des Kapitalismus seit der Amtsübernahme Ronald Reagans, von 1981-1989 der 40. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, zeigt einmal mehr, dass menschliche und soziale Interessen bei der Verwertung des Kapitals nur stören. Gegenentwürfe zur Dominanz des Geldes über alle anderen Bedürfnisse des Menschen gibt es seit dem Fall der Mauer 1989 und dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus fast nur noch im Islam. Dieser sozioökonomische Aspekt des Konfliktes zwischen Orient und Okzident - die Verpflichtung des gläubigen Muslim zu sozialer Verantwortung, zum Geben von Almosen und zur Ablehnung des Zinsnehmens bei Kapitalgeschäften - wird in westlichen Analysen und Kommentaren in Mainstream-Medien gerne unterschlagen.

Die gesellschaftliche Ebene ist in Staaten, in denen die lokale Wirtschaft und die nationale Politik mit der Dynamik internationaler Prozesse nicht mehr mithalten können, häufig die einzige, die noch einigermaßen funktioniert. Die Islamisten haben nicht zuletzt dadurch Zulauf, dass sie ein soziales Netzwerk für diejenigen Menschen schaffen, die von der globalisierten Ökonomie als unbrauchbar ausgesondert und marginalisiert werden. Die Gesellschaft gezielt zum Objekt der Veränderung zu deklarieren, ist somit eine Drohung, die als Angriff auf das letzte Refugium wertkonservativer Kreise nicht nur in islamischen Staaten verstanden wird.

Übrigens stehen auch NGOs und Stiftungen im Süden wie in den früheren Sowjetrepubliken mitunter im Verdacht, bewusst oder unbewusst westliche Wertvorstellungen zu universal geltenden Doktrinen zu erklären. "Die meisten großen NGOs werden von Hilfs- und Entwicklungsagenturen finanziert und patronisiert, welche wiederum von westlichen Regierungen, der Weltbank, der UNO und einigen multinationalen Konzernen finanziert werden", sagte die indische Schriftstellerin Arundhati Roy in einem Vortrag am 16. August 2004 in San Francisco. "Obwohl sie vielleicht nicht die gleichen Agenturen sind, sind sie sicherlich Teil der selben losen politischen Formation, welche das neoliberale Projekt überwacht und den Einschnitt in der öffentlichen Finanzierung erst gefordert hat."

Klaus Boldt ist Gründer und Herausgeber von Entwicklungspolitik Online.

 


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