Foto: Kampagne Gerechtigkeit jetzt!, erlassjahr.de

New Delhi/Berlin (epo.de). - "Welchen Einfluss hat der Handel auf die Armen?", fragen sich Regierungsvertreter, Handels- und Entwicklungsexperten derzeit auf einer dreitägigen Konferenz der UN-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in Neu-Delhi. Die meisten Redner sind sich einig: Die schnell wachsende Exportwirtschaft hat, wenn auch ungleichgewichtig, dazu beigetragen, die Armut in Indien zu verringern. Doch die Angst grassiert, dass die Fortschritte in Indien und anderen wachstumsstarken Entwicklungs- und Schwellenländern durch die "Turbulenzen" der Finanzmarktkrise zunichte gemacht werden könnten. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) legte am Freitag eine neue Studie vor, die vor den Folgen der wachsenden Kluft bei der Einkommensverteilung weltweit wanrt: mehr Kriminalität, mehr Hungeropfer, eine geringere Lebenserwartung und weniger Bildung.

Laut einer Studie, die von der UNCTAD, der indischen Regierung und vom britischen Department for International Development (DFID) in Auftrag gegeben worden war, brachten wachsende Exporte in Indien zwischen 2003 und 2007 26 Millionen neue Arbeitsplätze, 55 Milliarden US-Dollar zusätzliches Einkommen und mehr Beteiligung von Frauen am wirtschaftlichen und politischen Geschehen. Auch die unterste Einkommengruppe profitierte vom Wachstum, doch ihr Anteil am zusätzlich generierten Einkommen habe bei nur 1,6 Prozent gelegen, sagte die stellvertretende UNCTAD-Generalsekretärin Lakshmi Puri.

Wie sich die Finanzkrise auf die zarten Erfolge bei der Armutsbekämpfung auswirkt, wagen selbst Experten nicht exakt vorauszusagen. So heißt es in einer UNCTAD-Mitteilung über den ersten Konferenztag:
"Both Mrs. Puri and Creon Butler, Deputy High Commissioner of the British High Commission, said it is necessary to focus on the current financial crisis and to take steps to keep it from reversing recently improved living standards in developing regions.  Mr. Butler urged academicians and policy makers to analyze how the crisis and international trade are linked and what impacts this could have on efforts directed at poverty reduction. Beyond urgent stabilization measures, a fundamental 'rethink' of the global financial and trade systems is required, he said.  He and several others noted that sound government policies also are vital."
POLITISCHER WILLE FEHLT

"Die Welternährungskrise erfordert eine ebenso beherzte Rettungsaktion wie die Weltfinanzkrise", fordert der entwicklungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Thilo Hoppe. "Die Finanzkrise zeigt: Regierungen sind durchaus fähig, zügig enorme Rettungsaktionen in die Wege zu leiten - wenn nur der politische Wille vorhanden ist. Dabei geht es nicht nur um eine moralische Pflicht zur Hilfe für die Hungernden, sondern um unser ureigenes Interesse an globaler Stabilität und Sicherheit."

Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) stößt ins selbe Horn: "Wenn die internationale Gemeinschaft für die Rettung des Finanzsystems innerhalb kürzester Zeit viele Hundert Milliarden Dollar mobilisieren kann, muss es auch möglich sein, die Milliardenbeträge zu mobilisieren, die notwendig sind, um die Welt vor Hunger und Armut zu retten", erklärte sie. "Die Entwicklungsländer leiden derzeit unter einer dreifachen Krise. Sie sind einerseits massiv von den gestiegenen Nahrungsmittelpreisen betroffen. Andererseits sind ihre Kosten für Öleinfuhren dramatisch gestiegen. Und jetzt gefährdet die Bankenkrise ihr Wachstum noch zusätzlich."

UNSCHULDIGE BEOBACHTER

UNCTAD-Generalsekrtär Supachai Panitchpakdi erklärte, die Entwicklungsländer seien "unschuldige Beobachter" ("innocent bystanders") der sich ausweitenden globalen Finanzkrise. "The impact on developing countries will be much deeper than was anticipated", sagte er am Donnerstag in Genf. Einige Sektoren der sich entwickelnden Ökonomien des Südens "are beginning to suffer, and this is only the beginning". Der Handel werde darunter leiden, und der Rohstoff-Boom, der den Entwicklungsländern einige Jahre geholfen habe, werde nun zu Ende gehen.

Panitchpakdi zweifelt daran, dass die Entwicklungshilfe-Leistungen in genügendem Maße gesteigert werden können, um die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen wie geplant bis 2015 erreichen zu können. Er befürchtet eine Kapitalflucht aus den Ländern des Südens und fordert eine Form der Regulierung der Finanzmärkte, die die Risiken für kleine Länder verringert.

Der Direktor der UNCTAD-Abteilung Globalisierung und Entwicklungsstrategien, Heiner Flassbeck, befürchtet eine enorme Abschwächung des Handels aufgrund der heraufziehenden globalen Rezession:
"The current malaise is that we have built a huge casino next to the real economy, and given too many people the means to play there, and now that casino has collapsed. We need to realize, to learn the lesson, that this kind of casino is not productive, is not helpful. We must go back to balanced and real economic relations and to balanced relations between currencies."

GERECHTIGKEITSLÜCKE WÄCHST

Die Folgen hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in einem am Freitag veröffentlichten neuen Bericht festgehalten. Demnach ist die Kluft zwischen den Niedriglohn-Empfängern und den "Besserverdienenden" im globalen Maßstab seit Anfang der 90er Jahr dramatisch gewachsen - trotz eines 30-prozentigen Anstiegs der Zahl der Arbeitsplätze weltweit. In der Ankündigung der Ergebnisse der Studie durch die Vereinten Nationen heißt es, "that the major share of the cost of the current financial and economic crisis will rest on the shoulders of hundreds of millions of people who have not shared in the benefits of the previous global economic expansion".

Raymond Torres, Director des ILO-Instituts für Arbeitsstudien, erklärte: "The present global financial crisis is bound to make matters worse unless long-term structural reforms are adopted". Er verweist auf einen Rückgang des Anteils der Lohneinkommen in Lateinamerika und der Karibik um 13 Prozent und um 9% in den "fortgeschrittenen Ökonomien". Die Vorstandsvorsitzenden der 15 größten Unternehmen in den USA verdienten im Jahr 2007 520 Mal soviel wie der Durschnittsverdiener. 2003 hatte dieses Missverhältnis noch bei 360:1 gelegen.

Die Studie führt als mögliche Folgen dieser Gerechtigkeitslücke eine wachsende Kriminalität, eine geringere Lebenserwartung und in armen Ländern Mangel- und Fehlernährung sowie eine geringere Einschulungsrate auf.

"Already now, there are widespread perceptions in many countries that globalization does not work to the advantage of the majority of the population", heißt es in der Studie, die den Titel "World of Work Report 2008: Income inequalities in the age of financial globalization" trägt.

DER BOCK ALS GÄRTNER

Die dringend notwendige Regulierung der Finanzmärkte soll jetzt ausrechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) übernehmen, der in den vergangenen Jahrzehnten genau das gepredigt hat, was er jetzt bekämpfen soll: Deregulierung, einseitige Exportorientierung der Entwicklungsländer, Öffnung der Märkte für Waren und Dienstleistungen aus dem Norden (bei weiter bestehender Abschottung der Agrarmärkte des Nordens), Privatisierung staatlicher Unternehmen und Einrichtungen. IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn fühlte sich berufen, den IWF umgehend als Retter in der Not zu präsentieren: "Wir sind in der Lage, den Kompromiss und das Allgemeininteresse zu definieren und zu garantieren", sagte Strauss-Kahn der Pariser Sonntagszeitung "Le Journal du Dimanche".

"Der Fisch stinkt vom Kopf her", warnte jedoch der Unternehmensberater und frühere Weltbank-Mitarbeiter Hans-Joachim Dübel am Mittwoch auf einer Diskussionsveranstaltung der Grünen im Bundestag. Er verwies ebenso wie Bestseller-Autor Harald Schumann ("Die Globalisierungsfalle", "Der globale Countdown") auf die personellen Verflechtungen zwischen dem Staat als Regulierungsinstanz und den Finanzinstitutionen als Deregelierungs-Lobbyorganisationen.

So kann Hajo Koch-Weser, früher Finanz-Staatssekretär und "Regulierer", jetzt als Top-Manager der Deutschen Bank die Früchte seiner Arbeit ernten. Der oberste Krisenmanager in den USA, Finanzminister Henry Paulson, der die US-Bankenwelt jetzt retten soll, war zuvor CEO bei der Investmentbank Goldman-Sachs.  

Der Finanzsystem-Forscher Heribert Dieter von der Stitung Wissenschaft und Politik warnt vor allzuviel Vertrauen in den IWF: "Ich bin sehr überrascht, das man den Bock zum Gärtner machen will", sagte Dieter. Der IWF habe in den Entwicklungsländern in den letzten Jahrzehnten schließlich "eine  Krisenverschärfungspolitik gemacht".

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