Rio de Janeiro (epo). - Die Menschenmasse in weißen Gewändern leuchtete stärker als die Feuerwerkskaskaden. Tausende Altäre mit flackernden Kerzen, Palmwedeln, Sekt, Zuckerrohrschnaps, Blumen und Parfüm wurden zu Ehren der Meeresgöttin Yemanj im Sand errichtet. Hellblaue kleine Holzboote mit weiß gekleideten Puppen trieben als menschliche Boten ins Meer hinaus. Verzückte Gläubige, umringt von ihrer singenden Gemeinde, wateten durch die Brandung, um Yemanja? näherzukommen und ihr Wohlwollen für das neue Jahrtausend zu erbitten.

Nicht nur Afro-Brasilianer huldigen der Meeresgöttin. Über zwei Millionen Menschen feierten in Rio die Jahrtausendwende am Strand von Copacabana. "Umbanda", einst verachtete Religion afrikanischer Sklaven, gehört heute zur kulturellen Tradition Brasiliens. Fast alle nationalen Symbole, sei es Samba oder Karneval, Capoeira oder Candombl?, beruhen auf dem Beitrag der Nachfahren afrikanischer Sklaven. Auf diese Assimilation und Toleranz sind alle Brasilianer stolz. Schriftsteller wie Jorge Amado, S?rgio Buarque de Holanda oder der Soziologe Gilberto Freyre bemühen sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts, das kulturelle Erbe der brasilianischen Ureinwohner sowie der afrikanischen Sklaven aufzuwerten.

Das Thema Rassismus ist deshalb auch 500 Jahre nach dem Beginn der portugiesischen Eroberungszüge ein Tabu. Offiziell gibt es keine Diskriminierung, höchstens 'Vorurteile gegenüber einer Hautfarbe'. Das Wort "ra?a" (Rasse) gilt als Synonym für Willenskraft, Energie und Durchsetzungsvermögen, das Wort "racismo" steht auf dem Index. "Die Brasilianer wähnen sich in einer 'Rassendemokratie', schreibt der Soziologe Antonio S?rgio Alfredo Guimaraes, Autor der jüngsten Studie über Rassismus in Brasilien. Seit der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 habe es in Brasilien keinerlei Konflikte oder gar gesetzliche Trennung zwischen den verschiedenen Ethnien gegeben.

Vertreter der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in Brasilien teilen die Begeisterung für die 'schwarze-weiße Harmonie' ganz und gar nicht. "In Brasilien ist die Apartheid schlimmer als in Südafrika", kontert Joao Jorge Santos Rodrigues, Leiter der erfolgreichen schwarzen Rhythmusgruppe "Olodum" aus Bahia. Die vorherrschende Ideologie der "Rassendemokratie" würde nämlich davon ausgehen, dass Schwarze wissen, wo ihr Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie sei. Kennzeichnend für das scheinbar friedliche Miteinander sei die Verleugnung der eigenen Wurzeln. "Die Sehnsucht nach einer helleren Haut hat dazu geführt, dass bei der jüngsten Volkszählung 138 verschiedenen Hauttöne angegeben wurden", erinnert Rodrigues.

Rund zwei Drittel der 160 Millionen Einwohner des Landes bezeichnete sich bei der offiziellen Befragung als "nicht weiß". Die Vermischung zwischen Schwarzen und Weißen (Mulatten), indianischen Ureinwohnern und Weißen (Mestizen) und Asiaten ist weit verbreitet. Dennoch kennzeichnen die für Brasilien typischen extremen Kontraste zwischen arm und reich, zwischen Herzlichkeit und Gewaltausbrüchen, zwischen Spitzentechnologie und Steinzeit auch das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien. Trotz der offiziellen Ablehnung jeglicher Diskriminierung stehen Afro-Brasilianer in sämtlichen Statistiken zu den Bereichen Lebensqualität, Bildung, Beruf und Einkommen an unterster Stelle.

Ben-Hur Ferreira, einer der wenigen schwarzen Abgeordneten im brasilianischen Kongreß, gibt sich dennoch optimistisch: "Die zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen, die seit dem Ende der Militärdiktatur die soziale Ausgrenzung der schwarzen Bevölkerung nachgewiesen haben, machen die Mechanismen der Unterdrückung sichtbarer und tragen deshalb zur Bewußtseinsbildung unter den Afrobrasilianern bei", ist das Mitglied der Brasilianischen Arbeiterpartei PT überzeugt. Bei den Kommunalwahlen in diesem Jahr werde die Anzahl der afrobrasilianischen Bürgermeister und Gemeindevertreter weiter zunehmen, glaubt er.

Schwarze Politiker in Spitzenpositionen wie Benedita da Silva, Vice-Gouverneurin des Bundesstaates Rio de Janeiro, oder Vicente Paulo da Silva, "Vicentinho", Chef des einflußreichen Gewerkschaftsverbandes CUT, bleiben allerdings die Ausnahme. Im Alltag "kämpfen Schwarze an zwei Fronten, ums Überleben und um ihre kulturelle Identität", erklärt Dalmir Francisco, Professor an der Universität im Bundesstaat Minas Gerais, und Mitglied des afrobrasilianischen Kulturinstituts Intecab. Die Bewegung der Schwarzen habe es nicht geschafft, für ihren Kampf um mehr kulturelle und wirtschaftliche Rechte die gleiche Aufmerksamkeit zu erlangen wie andere soziale Gruppen, zum Beispiel Gewerkschaften.

Als Symbol für die Aufstiegschancen von Afro-Brasilianern gilt nach wie vor Fußballkönig Pel?. Der dreifache Fußballweltmeister, in zweiter Ehe mit der weißen Brasilianern Assiria Seixas Lemos verheiratet, versuchte als Brasiliens erster schwarzer Minister (1985-1998), das Land mit Sportplätzen zu übersehen, um Jugendlichen aus Elendsvierteln einen Ausweg aus der Armut zu ermöglichen. "Wo Pel? Zutritt hat, haben automatisch alle Schwarzen Zutritt", erklärt sein persönlicher Referent Agemar Sanctos. Pel? sei der erste schwarze Brasilianer gewesen, der einen Mercedes fuhr, erinnert er sich. "Es störte ihn nicht, dass ihn die Leute damals in den 60er Jahren für den Chauffeur hielten."

Auch Pel? identifiziert sich mit der in Brasilien vorherrschenden Mischlingskultur, obwohl er mehrfach den verdeckten Rassismus in seiner Heimat offenlegte und kritisierte. Der Mehrheit der rund 70 Millionen Mischlinge und Schwarzen in Brasilien geht es ähnlich - sie befürwortet die offizielle Doktrin der "Weißwerdung". Mit der Idee, die im 19.Jahrhundert entstand, sollten die Minderwertigkeitsgefühle gegenüber einem wirtschaftlich überlegenen Europa in Brasilien kompensiert werden. "Weiß" galt als Symbol für christlich, gebildet, europäisch, das Attribut "schwarz" hingegen verkörperte das Gegenteil. Der Preis für die "Aufhellung" ist hoch: Indianische Kultur und afrobrasilianische Traditionen werden abgewertet und verdrängt.

Das Aufleben von afro-brasilianischen Bewegungen, insbesondere in der Stadt Salvador, wo über 80 Prozent der zwei Millionen Einwohner afrikanische Vorfahren haben, wird deshalb von einem großen Teil der Öffentlichkeit mit Mißtrauen beobachtet. "Nichts verletzt die brasilianische Seele mehr als die bewußte Pflege unterschiedlicher Kulturen", meint Buchautor Antonio Guimaraes. Schwarze Bürgerrechtsbewegungen sähen sich deshalb häufig dem Vorwurf des "umgekehrten Rassismus" ausgesetzt.

Bei der Feier zum 300. Todestag des schwarzen Nationalhelden "Zumbi" am 20. November 1995, der im Nordosten Brasiliens einst die wichtigste Siedlung geflohener Sklaven gegründet hatte, wurde der wackelige Untergrund des "schwarzen Selbstbewußtsein" besonders deutlich: "Die brasilianische Presse hat die bisher größte Demonstration gegen Rassismus in Brasilien schlicht ignoriert", erinnert sich der 37jährige Journalist Fernando Conceicao. Die Oberschicht versuche, die Debatte über ein eigenes ethnisches Selbstbewußtsein der Schwarzen herab zu würdigen, in dem sie das Problem des Rassismus ganz einfach leugne. "Ihre unkontrollierte Wut darüber, dass Schwarze es satt haben, nur die Hüften zu schwingen, Kaffee zu servieren, von der Polizei gejagt zu werden oder Fußball zu spielen, muß endlich ein Ende haben", fordert der afrobrasilianische Aktivist.

Einen großen Erfolg können die afro-brasilianischen Bewegungen jedoch bereits für sich verbuchen. In der zunehmend wachsenden schwarzen Mittelschicht herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die kulturelle Identität unabhängig vom materiellen Wohlstand gewahrt werden muß. "Wenn dunkelhäutige Kinder nichts über ihre Wurzeln wissen, verinnerlichen sie die kulturellen Werte ihrer Umgebung und fühlen sich als Weiße", warnt die Psychologin Ana Maria da Silva von der Gruppe "Amma Psique e Negritude". "Wenn dann eines Tages jemand dem Kind klar und deutlich sagt, dass es schwarz ist, kommt es zur emotionalen Katastrophe."

Viele Afro-Brasilianer, die den sozialen Aufstieg geschafft haben, pendeln mit größter Selbstverständlichkeit zwischen Asphalt und Armutsviertel hin und her. Grillen, Fußballspielen und gemeinsame Feiern mit Familienmitgliedern und den neuen, wohlhabenden Freunden gehören zum Pflichtprogramm. Der Spagat zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten verlangt allerdings eine außerordentliche Portion Gelassenheit und Selbstbewußtsein zugleich. Denn nicht nur Neid und Mißtrauen früherer Freunde, auch Skepsis und wiederholte Prüfungen in der neuen Umgebung gilt es auszuhalten.

Die Werbebranche hat Afro-Brasilianer längst als Konsumenten entdeckt. In den berühmten brasilianischen Seifernopern gehören sie zuweilen der Mittelschicht an. Auch die Anzahl schwarzer Geschäftsleute steigt kontinuierlich. "Seit zwei Jahren ist die Präsenz von Schwarzen in Werbefilmen deutlich angestiegen, "meint Billy Castilho, Art-Direktor in einer Werbeagentur in Sao Paulo. Nur bei Anzeigen für Autos und Zahnpasta kämen so gut wie keine schwarzen Fotomodelle vor. Castilho setzt auf Qualität und Ethik: "Werbefilme, in denen unsere Würde als Afro-Brasilianer verletzt wird, sollten wir zurückweisen, auch wenn dies einen finanziellen Verlust bedeutet", stellt er klar.

Maria do Carmo Valério Nicolau räumte bereits vor zwölf Jahren mit dem Vorurteil auf, dass sich Afro-Brasilianerinnen keine Schönheitspflege leisten können. Nachdem die Lehrerin für eine Benefiz-Gala im Fernsehen mit weißem Puder eingestäubt wurde, beschloss sie, für ihre Geschlechtsgenossinnen Abhilfe zu schaffen. Sie gründete den Kosmetikkonzern "Espaco Cor da Pele" mit speziellen Produkten für dunkle Hauttypen, damals ein absolutes Novum auf dem brasilianischen Markt. Fernsehschauspieler legen ihr Makeup auf, sogar nach Afrika werden die insgesamt 120 verschiedenen Produkte exportiert.

Dennoch kämpft die erfolgreiche Geschäftsfrau noch immer mit Vorurteilen. "Wenn sie erfahren, dass die Firmeninhaberin schwarz ist, wollen viele Zwischenhändler nicht mehr mit uns zusammenarbeiten", klagt sie in einem Interview mit der brasilianischen Zeitschrift "Raca Brasil", Brasiliens Blatt für afro-brasilianische Aufsteiger. Viele wollten auch einfach nur spionieren. Mittlerweile schluckt die 67jährige die bittere Pille des verschämten Rassismus gelassen. Sie investiert einen großen Teil ihres Gewinns in soziale Projekte, denn sie hat ein Ziel: Schwarze Schönheit, und nicht schwarzes Elend soll künftig das Merkmal der afrobrasilianischen Bevölkerung Brasiliens sein.

Astrid Prange


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