Hongkong/Berlin (epo). - Barbara Unm??ig. Foto: Heinrich B?ll Stiftung In Hongkong versammeln sich vom 13. bis 18. Dezember Delegierte aus 149 Ländern zur Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO). Der WTO Gipfel soll die sogenannte "Entwicklungsrunde" (Doha-Runde) der Welthandelsgespräche zu einem Abschluss bringen, die die Interessen der Länder des Südens stärker berücksichtigen sollte. Dieses Unterfangen gilt als weitgehend gescheitert, da die Industriestaaten und ihre global agierenden Konzerne die Verhandlungen dominieren. Im epo Interview plädiert Barbara Unmüßig, Vorstandsvorsitzende der Grünen-nahen Heinrich Böll Stiftung (HBS), dennoch für eine differenzierte Betrachtungsweise der Welthandelsorganisation. Fest steht für sie: "Die Ergebnisse  von Hongkong müssen sich daran messen lassen, ob sie wirklich entwicklungsverträglich im Sinne des Mandats der Doha-Runde sind. Falls nicht, ist es besser die Verhandlungen werden verschoben."

Barbara Unmüßig von der Heinrich Böll Stiftung über den WTO Gipfel in Hongkong und die Rolle der Zivilgesellschaft

Frageepo: Die Welthandelsorganisation (WTO) steht für eine forcierte Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung der Märkte bei vielen Industrie- und Agrarprodukten, aber zunehmend auch beim Handel mit Dienstleistungen und geistigen Eigentumsrechten. Nach der Theorie der komparativen Kostenvorteile wäre es möglich, dass auch ärmere Länder von mehr Handel und mehr Wettbewerb profitieren können. Gibt es die berühmten "Win-Win-Situationen"? Oder produziert die Globalisierung unweigerlich Gewinner und Verlierer?

Barbara Unmüßig: Jede Modernisierungs- oder Entwicklungspolitik hat Gewinner und Verlierer. Es kommt jedoch darauf an, ob staatliche und demokratisch legitimierte Politik und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse wie z.B. zwischen Kapital und Arbeit in der Lage sind, sozialen Ausgleich, Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit zu organisieren. In der Mehrzahl der Entwicklungsländer fehlen gerade solche Aushandlungsprozesse und sozialstaatlichen und steuerrechtlichen Strukturen. Das Problem der gängigen marktradikalen ökonomischen Theorien ist, dass sie einen Automatismus zwischen Freihandels- und Privatisierungspoltiik einerseits und  Wohlfahrtseffekten andererseits unterstellen.

Die Behauptung, Freihandel komme langfristig im sog. Trickle down Effekt auch den Armen zugute, kann bezweifelt werden. Studien, die den Wohlfahrtseffekt durch Freihandel in Entwicklungsländern zu beziffern suchen, sind sehr widersprüchlich. Die früheren, sehr optimistischen Prognosen der Weltbank zu Wohlfahrtsgewinnen korrigiert diese Entwicklungsagentur mittlerweile selbst drastisch nach unten. Fest steht, dass eine zu schnelle Öffnung der Märkte für Industrie- und Agrarprodukte  aus dem Norden ganze Branchen und damit Hunderte von Millionen KleinbäuerInnen oder TextilproduzentInnen in Entwicklungsländern ins Elend stürzen kann, ohne dass sie von funktionierenden Sozialsystemen aufgefangen werden. Davon sprechen zahlreiche empirische Studien Bände.

Frageepo: Die WTO versucht das bislang vor allem nationalstaatlich verbriefte Eigentums- und Vertragsrecht international durchzusetzen. Das kann auch für ärmere Länder Vorteile haben, zum Beispiel bei der Konkurrenz um ausländische Investitionen. Aber es gibt auch die Bemühungen der Patentierung von Lebewesen durch multinationale Konzerne und den als "Gen-Diebstahl" bezeichneten Versuch, die verrücktesten Patente auf Pflanzen anzumelden, die aus den tropischen "Gen-Pools" der Erde stammen und die zum nationalen wie internationalen Erbe der Menschheit gehören. Die WTO scheint mit ihren Klage- und Schiedsverfahren sehr erfolgreich darin, Partikularinteressen auf internationaler Ebene zum Durchbruch zu verhelfen - trotz des Scheiterns der WTO-Gipfel von Seattle (1999) und Canc?n (2003). Nützt es etwas, die Ministerkonferenz in Hongkong "platzen zu lassen", wie es viele NGOs propagieren?

Barbara Unmüßig: Bislang gelingt über das existierende Regelwerk der WTO kein wirklicher Interessensausgleich zwischen Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländern. Das kooperative gleichberechtigte Aushandeln von Kompromissen ist (noch) nicht in Sicht. Das lässt sich auch wieder vor Hongkong beobachten. Die Ergebnisse  von Hongkong müssen sich daran messen lassen, ob sie wirklich entwicklungsverträglich im Sinne des Mandats der Doha-Runde sind. Falls nicht, ist es besser die Verhandlungen werden verschoben.  Forderungen nach einem Moratorium sind da durchaus eine Überlegung wert.

Auffällig ist, dass diejenigen, die das Hongkong-Treffen platzen lassen wollen oder die WTO "entgleisen" sehen möchten, keine realistische Alternative zu bieten haben, wie die gegenwärtige ungerechte Welthandelsordnung gestaltet werden soll. Was soll nach dem "Entgleisen der WTO" eigentlich kommen? Welchen Regeln, Standards und Verfahren soll eine Welthandelsordnung folgen, wenn sie Entwicklungsländern und ihrer Bevölkerung nutzen soll? Bilaterale Verträge, wie sie unter den gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Machtverhältnissen (asymmetrisch) ausgebaut werden, können hierzu keine Alternative sein. Handel wird dann bilateral und regional reguliert. Auf der Strecke bleiben dabei gerade weniger verhandlungsstarke Länder.

Für diejenigen, die an einem Interessensausgleich und an einer sozial und ökologisch zukunftsfähigen und friedlichen Entwicklungsperspektive interessiert sind, gibt  keine Alternative zu einer multilateralen Handelsordnung. Ihre gerechte und demokratische Gestaltung muss erkämpft werden. Cancun war für die Entwicklungsländer hierfür eine wichtige Etappe. Diesen Weg konsequent mit einer klaren Reformagenda weiter zu beschreiten, ist zielführender als die WTO komplett "entgleisen" zu lassen.   In allen Regionen formieren sich politische und wirtschaftliche Kooperations- und Integrationszonen - sie sollten auch das Rückgrat einer Welthandelsordnung bilden.

Frageepo: Die Heinrich-Böll-Stiftung setzt sich für einen gerechten Welthandel ein. Doch was ist gerecht? Mittlerweile gibt es ja nicht mehr den monolithischen Block der "Entwicklungsländer", die einen fairen Anteil an den Erlösen ihrer Rohstoffe und Agrarprodukte einfordern. Exportorientierte Schwellenländer wie Brasilien oder Thailand pochen inzwischen selbst auf eine teilweise Öffnung der Märkte armer Länder, um ihre Waren in bestimmten Wirtschaftsektoren besser absetzen zu können.

Barbara Unmüßig:  Die WTO greift mit einer Vielzahl allgemeingültiger Regeln tief in nationale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitiken ein. Dabei zeigt sich, dass es den Industrieländern immer wieder gelingt, ihre Interessen - vom Fortbestand der Agrarsubventionen bis zum Patentrecht  -  durchzusetzen. Bisher jedenfalls haben die Industrieländer keine nennenswerten Handelsprivilegien aufgeben müssen oder substanziellen Willen gezeigt, die Entscheidungsprozesse demokratischer zu gestalten. Zur Zeit führt die Welthandelsordnung zu ungerechten Ergebnissen, was in einer Welt der ungleichen Akteure nicht allzu verwunderlich ist.

Das ist allerdings schon lange nicht mehr eine klassische Nord-Süd-Konstellation. Agrarexporteure wie Brasilien setzen auf weitere Liberalisierung der Agrarmärkte. Das ist selten von Vorteil für ärmere Entwicklungsländer, die zum Beispiel ausgehandelte Sonderbehandlungen für Zollpräferenzen oder andere Schutzmechanismen  für ihre einheimischen Märkte im Zuge weiterer Liberalisierung verlieren können.

Das alte und immer wieder gern zitierte Täter-Opfer-Schema stimmt schon lange nicht mehr. Interessendivergenzen und -allianzen gehen gerade bei Handelsverhandlungen querbeet. Die Definitionsmacht, was entwicklungsfreundlich ist, liegt wie gesagt hier nicht mehr ausschließlich bei den Industrieländern. Davon zeugen die verschiedenen Verhandlungsgruppen (G 20, G 33 oder die FIPS = five interested parties = EU, USA Brasilien, Indien, Australien.

Als politische Stiftung streiten wir mit unseren PartnerInnen im "Süden" dafür,  dass politische und wirtschaftliche Handlungsspielräume  und die Verschiedenheiten von Entwicklungsstrategien erhalten werden sollen und nicht mit uniformen Regeln und Verträgen  "platt gemacht" werden. Wir setzen uns besonders für demokratisch legitimierte und transparente Entscheidungsprozesse ein.

Frageepo: Es scheint, nichtstaatliche Organisationen hätten die Welthandelsorganisation WTO zum Hauptfeind erkoren, weil sie mit ihren Forderungen nach einer gerechteren Gestaltung der Weltwirtschaft bei ihren nationalen Regierungen immer wieder auf Granit stoßen. Beispiel Deutschland: Während Entwicklungs- und Umweltministerium immer wieder auf eine Öffnung der Agrarmärkte des Nordens drängen, um Ländern des Südens eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen, haben sich Wirtschafts- und Finanzministerium regelmäßig als Bremser erwiesen. Das Hemd der eigenen Wählerschaft ist Politikern noch immer näher als der Rock der Interessen der Menschen in Entwicklungsländern, seien sie auch noch so berechtigt. Kommt da eine internationale Institution wie gerufen, deren konkretes Tagesgeschäft in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird und die als Prügelknabe für die Blockadepolitik ihrer Auftraggeber taugt? Letztlich bestimmt doch die Mehrheit der Mitgliedsländer, welche Regeln die WTO dem Welthandel auferlegt.

Barbara Unmüßig: Der Mangel an demokratischer Kontrolle, Transparenz und Rechenschaft ist ein großes Defizit in den Entscheidungsprozessen der WTO. Trotz formaler Gleichberechtigung der Entwicklungsländer -- wie in der UNO gilt das Prinzip "ein Land - eine Stimme" -- werden viele der Entscheidungsvorlagen in informellen Machtzirkeln  der WTO erarbeitet. Das hat erst jüngst wieder eine Gruppe der 33 Mitglieder aus Entwicklungsländer bitter beklagt. Die WTO hat nun 149 Mitglieder, und es ist eine prinizipielle Frage, wie eine solche große und formal gleichberechtigte Gruppe mit sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Interessen überhaupt unter einen Hut gebracht werden soll.

Probleme  des Multilateralismus, wie sie aus der UNO bekannt sind - politisch unkalkulierbar und damit  störanfällig, ineffizient, zu langsam -  haben auch die WTO erfasst.

Schwierig und bisher ungelöst ist die Rückbindung von WTO-Entscheidungen an die jeweiligen nationalen Parlamente. Obwohl WTO-Regeln tief in die Gesellschafts- und Wirtschaftspolitiken einzelner Länder einschneiden - siehe  beispielsweise die Liberalisierung der Dienstleistungen unter GATS -  ist die Mehrzahl nationaler Parlamente weder über die Positionen ihrer Regierungsvertreter in der WTO informiert noch können sie wirklich mitentscheiden. Bestenfalls sind Richtungsvorgaben möglich. Dieses Potential hat das deutsche Parlament immerhin im Vorfeld von Canc?n ausgeschöpft. Was den damaligen Wirtschaftsminister Clement jedoch nicht daran gehindert hat, sich über die Parlamentsbeschlüsse hinweg zu setzen. Vor Hongkong war wegen der Neukonstituierung des Bundestags Ähnliches nicht möglich.

Neue Prozeduren und Verfahren zu entwickeln, die mehr Beteiligung, Information und Entscheidung für alle Mitgliedsländer möglich macht, war nach dem Scheitern von Canc?n 2003 angemahnt worden. Auch hier gibt es jedoch wenig Fortschritt.

Frageepo: Im Weltagrarhandel dominieren global agierende Agro-Konzerne das Geschehen. Was stimmt Sie optimistisch, die internationalen Spielregeln in diesem Sektor z.B. zugunsten von Kleinbauern in Entwicklungsländern beeinflussen zu können? Schließlich haben NGOs es in so gut wie keinem Land der Erde geschafft, die Dominanz der industriell betriebenenen Landwirtschaft über die bäuerliche Landwirtschaft und die an der Qualität der Produkte orientierten biologischen Landwirtschaft zu verhindern oder zu brechen. Und die Mehrheit der Verbraucher will offenbar lieber billige Nahrungsmittel als eine Umkehr der Verhältnisse.

Barbara Unmüßig: Ihre Analyse teile ich weitgehend und ich bin schon erschüttert, wie Länder wie Indien alt bekannte Fehler wiederholen. Jahrelang hat es sich gegen Agrarimporte zur Wehr gesetzt, in den letzten Jahren jedoch die Tore geöffnet und wird nun von Billigimporten überschwemmt, die die einheimische Produktion zu zerstören beginnen. Der indische Wissenschaftler Devinder Sharma nennt dies die bittere Ernte des Welthandels. Der Import von Lebensmittel sei so, als würde man Arbeitslosigkeit importieren.

Dennoch: es bleibt uns gar nichts anderes übrig als Alternativen für ländliche Entwicklung konkret zu entwickeln und Handelsregeln so zu definieren, dass sie wirklich dem Schutz von kleinbäuerlichen Strukturen dienen. Dabei geht es uns nicht um eine Romantisierung kleinbäuerlicher Verhältnisse. Diese sind oft genug gerade für Frauen alles andere als angenehm. Die Heinrich Böll Stiftung hat gemeinsam mit Misereor und dem Wuppertal Institut einen Prozess initiiert, der genau nach solchen Alternativen und neuen Regeln sucht. Im sog. "Eco-Fair Trade Dialogue" finden sich  WissenschaftlerInnen und AktivistInnen aus verschiedenen Regionen und beruflichen Kontexten zusammen und wollen möglichst bis Ende 2006 ihre konzeptionellen Vorstellungen präsentieren, die einen Ausweg aus der jetzigen Liberalisierungspolitik um jeden Preis aufzeigen soll.

Barbara Unmüßig ist Vorstandsvorsitzende der Heinrich Böll Stiftung (HBS). Das Interview führte epo Chefredakteur Klaus Boldt.

? Heinrich Böll Stiftung


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