MutintaMumbwe (epo). - HIV - ein Virus sorgt seit den 80er Jahren für Tod und Verzweiflung. Beispiel Sambia: Vor 2010 wird die Epidemie ihren Höhepunkt in dem südafrikanischen Land wohl nicht erreichen, sagen Experten. Für die Kinder ist das eine soziale Katastrophe. Schon heute leben in Sambia über 800.000 Waisen mit dem schweren Erbe. Eine Reportage von Simone Orlik.

Mumbwe, irgendwo mitten im sambischen Busch. Die zwei-Millionen-Hauptstadt Lusaka ist fast 300 Kilometer weit entfernt: Hier gibt es zu wenig sauberes Wasser, keinen Strom, wenig zu essen; nur dichtes Buschgebiet, aus dem überall winzige Lehmhütten herausgucken. Tausende Menschen leben hier in absoluter Armut, vor allem Kinder, von denen viele ihre Eltern zu früh verloren haben, oft an Aids. Schätzungen gehen davon aus, dass über 800.000 Kinder in Sambia aufgrund der Immunschwäche zu Waisen wurden. Der 17-jährige Austin ist so ein Teenager. "Meine Eltern starben an Tuberkulose", sagt er. Doch sein Herz weiß: Sie starben an Aids. Aussprechen kann er das nicht Begreifliche noch nicht. Seitdem muss er den vierjährigen Bruder und die fünf Jahre alte Schwester durchfüttern, aufpassen, dass sie zur Schule gehen, und für sie da sein: zum Trösten, zum Spielen, zum Lachen. Ihre windige Hütte, die verloren auf einer Lichtung steht, ist so niedrig, dass man nicht darin stehen kann. Schutz vor der eisigen Kälte Sambias in der Nacht bietet sie auch nicht. Nicht einmal eine Decke besitzen die Kinder. Das Strohdach hat kürzlich ein Feuer aufgefressen. Jetzt haben sie es erst einmal notdürftig mit Gras repariert.

Austin

HIV/Aids ist für die Menschen Sambias eine soziale Katastrophe, vor allem für die Kinder. Seit dem Auftreten der ersten Fälle 1981 haben sich weltweit über 60 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert. Rund 20 Millionen sind bereits gestorben. Die meisten von ihnen gehörten zur produktiven Generation zwischen 15 und 45 Jahren. Zwei Drittel der Infizierten leben im Afrika südlich der Sahara. In Sambia ist jeder Sechste HIV-positiv. Betroffen sind vor allem die Kinder und Jugendlichen, die nach dem Tod der Eltern alleine zurechtkommen müssen. In Sambia fanden die Waisen bislang noch bei Verwandten Unterschlupf. So wie bei der 77-jährigen Kathy: Bei der eigenen Tochter Mutinta ist die Krankheit vor kurzem ausgebrochen. Gerade ist sie 37 Jahre alt geworden, zu jung, um zu sterben. Weil sie jeden Tag ein bisschen schwächer wird, hat ihre Mutter sie zu sich geholt. Noch hilft Mutinta auf dem Feld und im Haushalt mit, doch irgendwann wird sie auch dafür zu schwach sein. Kathy sorgt schon heute für 15 Waisen. "Wenn alle Kinder mit anpacken, werden wir überleben können", sagt sie. "Aber irgendwann sterbe auch ich und die Kleinen sind auf sich gestellt. Was wird dann?" Eine Frage, die sich in den kommenden Jahren noch viele Mädchen und Jungen stellen müssen: Was wird, wenn die eigenen Eltern sterben? Denn die Aids-Pandemie, eine Epidemie globalen Ausmaßes, hat ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht. Experten erwarten ihn nicht vor 2010, wenn überhaupt.

Heilung ist indes nicht in Sicht. Mutinta, der die Krankheit schon ins Gesicht geschrieben steht, hat noch nie von einer antiretroviralen Therapie gehört; die lebensverlängernde Behandlung, die Tausenden von Infizierten in den westlichen Industrienationen das Leben verlängert und die für die afrikanischen Länder unerschwinglich ist. "Als ich den Verdacht hatte, HIV-positiv zu sein, bin ich in ein Krankenhaus gegangen, um mich testen zu lassen." Als das Ergebnis positiv war, haben die Ärzte sie ohne Medikamente nach Hause geschickt. "Sie sagten, sie könnten nichts für mich tun", erzählt Mutinta gefasst. Heute versteht sie, warum sich viele Sambier nicht auf einen Bluttest einlassen. "Warum sollten sie auch?", fragt sie. "Wenn man uns Infizierte nach Hause schickt, um dort zu sterben, dann leben wir doch besser mit dem Glück des Nichtwissens - und zwar so lange, bis die Krankheit ausbricht." Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass sich bisher nur sechs Prozent der sambischen Bevölkerung einem HIV-Test unterzogen haben.

Die Infizierten tragen das Stigma mit sich herum, werden von Freunden und Nachbarn gemieden, bleiben mit ihren Kindern isoliert. Mutinta ist das zum Glück nicht passiert, denn ihre Freunde haben zu ihr gehalten, vielleicht, weil sie so offensiv mit der Tatsache umgeht. Aber mitbekommen hat sie Diskriminierungen bei anderen HIV-positiven Freunden und Verwandten. "Das Stigma ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit", sagt sie. "Weil die Menschen gegenüber Aids machtlos sind, vergraben sie das Wissen darüber so tief wie möglich. Was sie nicht sehen, existiert auch nicht." Aber gerade das mache es für die Kinder so schwer, die zurückbleiben. Denn von dem Unaussprechlichen berührt, meidet man auch sie nach dem Tod der Eltern. "Warum können wir nicht alle zu unserem Status stehen und glücklich sterben", fragt Mutinta. Doch es ist nicht nur Machtlosigkeit, sondern auch Unwissen, das die Bevölkerung unsicher macht. Gerade in den ländlichen Regionen weiß die Bevölkerung zu wenig über die Immunschwäche. Viele Sambier denken noch immer, die Krankheit würde über die Luft oder den normalen Hautkontakt übertragen. "Andere sind überzeugt, dass das Ganze mit Hexerei zu tun hat", sagt Mutinta. Die Waisen werden dabei in doppelter Weise diskriminiert: Denn es sterben nicht nur ihre Eltern an Aids, sondern Verwandte müssen sie auch noch durchfüttern. Weil in Sambia die Armut so groß ist, fällt es vielen Familien schon schwer genug, die eigenen Kinder zu ernähren.

Viele nichtstaatliche Organisationen haben das Problem erkannt, zum Beispiel die große sambische Frauenorganisation "Women for Change". Sie sucht derzeit nach Strategien, wie man den Waisen langfristig helfen könnte. "Jeden Tag werden es mehr Kinderfamilien. Austin und seine Geschwister haben wir gerade in der vergangenen Woche gefunden", erzählt die Vorsitzende Emily Sikazwe. Von der Regierung könnten diese Kinder nichts erwarten. Denn die leiste viel zu wenig. "Sie haben die Waisen in den ländlichen Regionen einfach vergessen." Bei dem Wort "Waise" zuckt Sikazwe fast ein wenig zusammen, denn in der Vergangenheit existierte dieser Begriff gar nicht: Zum Verständnis einer afrikanischen Großfamilie gehört, dass ein Kind viele Mütter und Väter hat und niemand alleine bleibt. Aber seitdem in Sambia die Eltern wie die Fliegen sterben, gibt es zu wenige Erwachsene für zu viele Kinder. Deswegen müsse man zukünftig, so die Vorsitzende, stärker die Nachbarschaften vor Ort mobilisieren und die Verantwortung auf sie übertragen. Uganda, das Erfolgsmodell in Sachen Aidsbekämpfung, habe vorgemacht, wie stark eine solche Hilfe sein kann. Uganda, das ostafrikanische Land nahe der großen Seen, das durch Bürgerkrieg und HIV schwer gebeutelt ist, hat die Infektionsrate von 15 auf fünf Prozent reduziert. Regierung und nichtstaatliche Organisationen haben dabei Hand in Hand gearbeitet.

Mutinta

Zurück in Sambia: Auch Austin bekommt Hilfe, selbst wenn die Nachbarschaftshilfe hier noch erste Gehversuche macht. Weil sein Häuschen die nächste Regenzeit nicht überstehen wird, hat er sich eine neue Hütte gebaut. Das Know-how kam von einem Experten in Sachen Hausbau aus Mumbwe. Seine Freunde halfen mit. Die Ziegel aus Wasser und Lehm hat er selbst hergestellt. Jetzt fehlt nur noch das Dach, aber auch das soll nächste Woche kommen. In Mumbwe kümmert sich ein Dorfkomitee um die Waisen. "Women for Change" hat das Komitee, das aus 40 Männern und Frauen besteht, mit finanzieller Unterstützung der Duisburger Kindernothilfe hier eingerichtet. Sie sollen lernen, kritisch über Themen nachzudenken, die sie konkret betreffen und Strategien entwickeln, um ihre Lebensumstände und die anderer zu verbessern.

Zum Beispiel der Aids-Waisen. John Musukwa, Austins Nachbar, ist Mitglied in diesem Komitee. Weil die drei Kinder tagsüber in der Schule sind, achtet er auf das Haus und den kleinen Maisspeicher. "Wenn die Eltern an Aids sterben, kommen oft die engsten Verwandten und nehmen den Kindern das wenige Hab und Gut weg", erzählt er. Austins Onkel, der auf der gleichen Lichtung wie er selbst lebt, war auch so ein Fall. "Als Austin in der Schule war, wollte er kurzerhand den Maisspeicher plündern. Wir haben ihn gerade noch rechtzeitig entdeckt und zur Rede gestellt." John Musukwa passt selbst auf 14 Kinder auf und ärgert sich darüber, dass Aids für die Bevölkerung Sambias immer noch ein Tabu ist. "Aids hat nichts mit Hexerei zu tun, sondern ist eine reale Bedrohung." Deswegen müsse man zusammenhalten und nicht die ausgrenzen, die von der Krankheit getroffen wurden, direkt oder indirekt. Für Albert Eiden, Referent für Sambia bei der Kindernothilfe, ist die Arbeit von "Women for Change" zukunftsweisend. "Unser Partner erkennt an, dass die Großfamilien wegen Aids oft nicht mehr in der Lage sind, die große Zahl von Waisen aufzunehmen. Nun werden die Dorfgemeinschaften mobilisiert, Verantwortung für die Kleinsten zu übernehmen und dazu befähigt, dies nachhaltig tun zu können."

Kathy und Mutinta

Emily Sikazwe ist glücklich über die ersten Ansätze der Gemeinwesenarbeit. "Dass sich Menschen wie John der prekären Lage Sambias so bewusst sind, liegt daran, dass sich das Bewusstsein der ganzen Dorfgemeinschaft verändert hat", sagt sie. Wenn mehr Menschen Aids enttabuisierten, könnte Sambia die bedrohliche Situation bezwingen. Um ein Tabu brechen zu können, muss man darüber reden. Doch gerade das ist in Sambia problematisch. Afrika ist nicht Europa und die Menschen reden hier nicht gerne über Sexualität. Deswegen tauscht man sich auf einem alternativen Wege über die Risiken von Aids aus: Mit Tanz und Theater, denn das ist elementarer Bestandteil der afrikanischen Kultur. Gerade hier sind die Kinder und Jugendlichen besonders kreativ. In vielen Gegenden gründen die Teenager Aids-Jugendgruppen und führen Sketche und Lieder auf, in denen sie über das Virus und dessen schreckliche Folgen sprechen. Unter anderem an der Namwala High School, einer weiterführenden Schule für Jungen und Mädchen, die zu Mumbwe gehört. Der Direktor Lloyd Fellows unterstützt den Anti-Aids-Club der Schule, dem 40 Kinder angehören: "Es gibt niemanden in unserer Schule, der nicht jemanden in seiner Familie an Aids verloren hätte", erklärt er. Viele hätten Diskriminierung und Stigma am eigenen Leib erfahren. Der Club sei für sie Bewältigung der eigenen Lebenssituation, aber auch Auftrag, das Tabu zu brechen und damit für andere Kinder eine bessere Zukunft zu erreichen.

Austin und seinen Geschwister hilft die Nachbarschaft schon heute. Das Konzept könnte über Mumbwe hinaus gehen. Denn bislang hat "Women for Change" in acht Regionen Sambias schon fast 300 solcher Komitees etabliert, die auch untereinander vernetzt sind. Gemeinsam könnten sie sich sogar bei der Regierung Gehör verschaffen, vor allem, wenn es um die Rechte der Kinder geht. Wenn es Menschen wie in Mumbwe gibt, die sich ihrer Verantwortung für die Zukunft bewusst werden, dann könnten in den vielen kleinen Hütten im dichten Busch Sambias viele Waisen doch noch eine glückliche Kindheit erleben.

Simone Orlik
Fotos:  Ralf Krämer

Simone Orlik ist Redakteurin bei der Kindernothilfe, Duisburg.
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