Rupert Neudeck. Foto: gruenhelme.de

Bonn (epo.de). - Einen Tag vor dem Accra High Level Forum on Aid Effectiveness in Ghana haben die Entwicklungsexperten Rupert Neudeck und Winfried Pinger in einem "Bonner Aufruf für eine andere Entwicklungspolitik" ein Versagen der Entwicklungshilfe für Afrika konstatiert und eine radikale Änderung des Kurses gefordert. Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, und der ehemalige entwicklungspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Winfried Pinger plädierten am Montag in Bonn für eine Kanalisierung der Entwicklungshilfe über nichtstaatliche Organisationen (NRO) "wo immer möglich" und eine Übertragung der Entscheidungsbefugnis über bilaterale Entwicklungszusammenarbeit auf die deutschen Botschaften.

Darüber hinaus wollen Neudeck und Pinger die Entwicklungshilfe auf das konzentrieren, "was sich als besonders förderungswürdig erwiesen hat: Grund- und Berufsbildung, Kleinkredite und die arbeitsintensive und beschäftigungswirksame Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen". Als Grund für ihren Aufruf, der bereits für Furore in der entwicklungspolitischen Szene gesorgt hat, nannten Neudeck und Pinger ein Versagen der personellen und finanziellen Entwicklungshilfe in den letzten 50 Jahren.

Pinger und Neudeck, die gemeinsam die "Aktion 2015" gegründet haben, gehen von zwei Annahmen aus:
  • "erstens: Der „Norden“ könne Afrika entwickeln. Wie jeder Mensch und jede Gesellschaft kann Afrika sich aber nur selbst entwickeln. Darüber hinaus gebietet die menschliche Würde, dass jeder Einzelne und jede Gesellschaft die Verantwortung für Entwicklung zunächst bei sich selbst sucht. Dieses Bewusstsein ist in Afrika weitgehend zerstört worden, weil ausländische Helfer zuviel Verantwortung an sich gezogen haben. Je mehr Verantwortung wir aber für die Entwicklung Afrikas übernehmen, desto mehr fördern wir Verantwortungsverweigerung der dafür in erster Linie Zuständigen.
  • zweitens: Der „Norden“ könne die Entwicklung Afrikas durch Umverteilung erreichen. Die Gleichung „mehr Geld = mehr Entwicklung“ geht nicht auf. Dennoch beherrscht sie bis heute die Entwicklungspolitik. Geld hat der Entwicklung häufig sogar geschadet, weil Eigeninitiative gelähmt wurde. Politische Beschlüsse, die Entwicklungshilfe für Afrika zu verdoppeln, sind unvernünftig und gefährlich. Gleiches gilt für die Tendenz, immer mehr Geld als „Budgethilfe“ zu vergeben. Damit werden Korruption und Unterschlagung erleichtert."
Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP, die sich auf das ADR-Magazin "FAKT" beruft, beklagt Neudeck, die deutsche Entwicklungspolitik bringe die Afrikaner in Abhängigkeit von immer neuen Hilfszahlungen. "Ich habe diese Politik hassen gelernt", wird Neudeck zitiert. Die Entwicklungspolitik habe mit dazu beigetragen, "dass die Staaten Afrikas die miserabelsten Regierungen bekommen haben, dass sie korrupte Regierungen bekommen haben, deren Korruption zum Himmel stinkt."

Volker Seitz, ehemaliger deutscher Botschafter in Afrika, sagte AFP/FAKT zufoge, er halte es für falsch, dass sich die Hilfeempfänger  darauf verließen, "dass immer mehr Gelder fließen". Unterzeichnet wurde der Aufruf nach "FAKT"-Angaben unter anderem von vier Ex-Botschaftern und dem früheren Innenminister Gerhart Baum (FDP).

"Wenn wir in einem weiteren halben Jahrhundert nicht vor einer ähnlichen Situation wie heute stehen wollen, muss der Kurs der Entwicklungshilfe radikal geändert werden", fordern Neudeck und Pinger. Mit ihrem Appell stießen sie beim Entwicklungsministerium, bei den Parteien und bei Entwicklungsorganisationen und -experten jedoch auf wenig Verständnis.

BMZ: NICHT AUF DER HÖHE DER DISKUSSION

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) erklärte, der Bonner Aufruf sei "eine Enttäuschung" und "am ehesten noch eine Auseinandersetzung mit der Entwicklungszusammenarbeit während des Kalten Krieges". Zudem sei er "nicht frei von parteipolitischer Instrumentalisierung". Damit spielte das BMZ auf die von CDU und FDP regelmäßig vor Bundestagswahlen vorgebrachte Forderung an, das Entwicklungsministerium abzuschaffen und seine Aufgaben dem Auswärtigen Amt zu übertragen. Im Bonner Aufruf fordern Neudeck und Pinger, die Verantwortung für bilaterale Projekte an die deutschen Botschaften im jeweiligen Entwicklungsland abzugeben.

Das BMZ bekräftigte zudem, man wolle am ODA-Stufenplan der EU festhalten und die Mittel für die Entwickungszusammenarbeit bis 2015 auf 0,7% des Bruttonationaleinkommens steigern. "Heute werden weltweit 10mal mehr Finanzmittel für Rüstung und Militär ausgegeben als für den Kampf gegen Armut, Hunger und Kindersterblichkeit. Das ist der eigentliche Skandal unserer Zeit, den der Bonner Aufruf mit keinem Wort erwähnt."

Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) forderte vor ihrer Abreise zur Konferenz über Entwicklungsfinanzierung am Montag abend vor der Presse in Berlin die Industriestaaten überdies auf, "endlich die Voraussetzungen für einen fairen Welthandel zu schaffen. Die schlimmste Form, Afrika in Abhängigkeit zu halten, besteht in den ungerechten Welthandelsstrukturen", betonte die Ministerin. Die "Pauschalierungen und Verallgemeinerungen" im Bonner Aufruf würden der Wirklichkeit Afrikas nicht gerecht.

Der Anteil Budgethilfe an den bilateralen Entwicklungsleistungen betrage lediglich 5,8 Prozent, erklärte das BMZ weiter. Sie werde "nur in besonders ausgewählten Fällen bei guter Regierungsführung" im Partnerland eingesetzt.

FALSCHE ANALYSE, FALSCHE SCHLUSSFOLGERUNGEN?

"Der sogenannte 'Bonner Aufruf' zieht aus einer falschen Analyse die falschen Schlussfolgerungen und täuscht zudem mit einer Handvoll Unterzeichnern eine Zustimmung vor, die unter Fachleuten zu diesen Fragen praktisch nicht existiert", kritisierte der Direktor der entwicklungspolitischen Organisation ONE in Deutschland, Tobias Kahler. "Die Zivilgesellschaft stark in die Entwicklungsarbeit mit einzubeziehen, ist ein richtiger Gedanke. Aber Pingers und Neudecks Vorstellung, die Millennium-Entwicklungsziele innerhalb der nächsten sieben Jahre ohne zusätzliche Mittel und unter konsequenter Umgehung der Regierungen vor Ort erreichen zu wollen, ist unrealistisch."
 
ANTIQUIERTES VERSTÄNDNIS VON ENTWICKLUNGSPOLITIK

"Auch verdiente Mitstreiter der internationalen Zusammenarbeit können falsch liegen", erklärten die Grünen-Entwicklungspolitiker Ute Koczy und Thilo Hoppe. "Der Bonner Aufruf von Rupert Neudeck, Winfried Pinger und anderen offenbart ein antiquiertes Verständnis von Entwicklungspolitik. Heutige Entwicklungspolitik will zweierlei tun: Strukturen beeinflussen, die entwicklungsförderlich sind, sowohl innerhalb von Staaten als auch im Verhältnis zwischen Staaten. Und zweitens die Lebensverhältnisse, wo immer möglich, direkt verbessern. Die Autoren des Aufrufs setzen ausschließlich auf Letzteres. Das greift zu kurz. Die Vorstellung möglichst nicht mit staatlichen Stellen zu arbeiten, hält der Wirklichkeit nicht Stand."

Die Herausforderungen des Klimawandels, des Umwelt- und Ressourcenschutzes würden für Entwicklungsländer gar nicht erst benannt", kritisieren Koczy, entwicklungspolitische Sprecherin der Grünen, und Hoppe, der Vorsitzender des Bundestagsausschußes für wirtschafliche Zusammenarbeit und Entwicklung (AWZ) ist. "Damit sind auch Fragen der Gerechtigkeit berührt, denn die Industrieländer sind für den Klimawandel wesentlich verantwortlich." Außerdem könnten die ungerechte Struktur des internationalen Handelssystems oder die Korruption in Afrika nicht der Entwicklungspolitik angelastet oder durch sie ausgeglichen werden.

"Dass der 'Norden' Afrika nicht entwickeln kann, ist eine Binsenwahrheit, die in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit seit Jahren erkannt ist", so Hoppe und Kocy. "Um Probleme anzugehen, reicht reine Basisarbeit nicht aus. Will man Strukturen verändern, muss man mit Regierungen und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, mit dem Ziel demokratische Strukturen und Prozesse zu stärken."

UM EIGENEN VORTEIL BESORGT

"Die Bonner Erklärung löst die Probleme der Entwicklungszusammenarbeit nicht!", argumentierten Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, und ihr Kollege Hüseyin Aydin, Obmann der Fraktion im Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

"Entstaatlichung kann kein Ziel der Entwicklungszusammenarbeit sein", sagte Hänsel weiter. "Es stimmt, dass mehr Geld allein nicht die Probleme des Südens lösen wird, die Autoren erwähnen aber mit keinem Wort die bestehenden ungerechten Handelsstrukturen, die noch größere Abhängigkeiten schaffen. Die Annahme der Bonner Erklärung, die Entwicklung Afrikas sei daran gescheitert, dass der Westen zuviel Verantwortung für die Entwicklung übernommen habe, sehen wir nur teilweise. Neben dem paternalistischen Charakter der Entwicklungszusammenarbeit war und ist der Westen in seinem Umgang mit den afrikanischen und anderen Ländern des Südens vor allem um seinen eigenen Vorteil besorgt - ein Vielfaches dessen, was als Hilfe von Nord nach Süd fließt, kommt auf umgekehrtem Weg zurück: über Zinstilgungen, Kapitalflucht, ungerechte Handelsbeziehungen, die den Süden strukturell benachteiligen. Seit Jahrhunderten wird Umverteilung zugunsten des Nordens organisiert. Daran ist die Entwicklung im Süden gescheitert."

Der Verbande Entwicklungspolitik (VENRO) hält den am Montag veröffentlichten "Bonner Aufruf" für "zu einseitig und vereinfachend". "Die radikale Abschaffung aller deutschen Entwicklungseinrichtungen kann nicht die Lösung sein. Die Arbeit der Hilfsorganisationen braucht eine sinnvolle staatliche Flankierung", sagte die VENRO-Vorstandsvorsitzende Claudia Warning.

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