Dirk Messner. Foto: DIEBonn (epo.de). - In der kommenden Legislaturperiode müssen wichtige Weichenstellungen vollzogen werden, wenn Deutschland seiner internationalen Verantwortung – vor allem gegenüber den Entwicklungs- und Schwellenländern – weiter gerecht werden soll. Prof. Dr. Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), hat in der aktuellen DIE-Kolumne eine zehn Punkte umfassende entwicklungspolitische Check-Liste für die nächste Legislaturperiode aufgestellt.

Die folgenden Punkte scheinen mir besonders relevant zu sein: Aufgrund der Finanzkrise steht die Globalisierung an einem kritischen Punkt. Sie kann scheitern und in einer fragmentierten, durch Protektionismus gekennzeichneten Weltwirtschaft münden. Mit der Begründung, zunächst müsste die Finanz- und Wirtschaftskrise überwunden werden, besteht die Gefahr, dass die Maßnahmen zum Schutz des Klimas und zur Bekämpfung der Armut und des Hungers nachlassen könnten. Weitere Anstrengungen sind notwendig, um die vielen Millionen Menschen in Entwicklungsländern zu unterstützen, die derzeit Opfer einer globalen Krise werden, die sie nicht mitverschuldet haben. Aus diesem Grund sehe ich zehn entwicklungspolitische Herausforderungen für die nächste Legislaturperiode.

1. UN-Millenniumsziele

Die Millennium Development Goals (MDGs) zur Armutsbekämpfung sollen bis 2015 erreicht werden. Viele Entwicklungsländer sind längst nicht "on track". Die nächste Bundesregierung sollte Mitte 2010 gemeinsam mit europäischen Partnern eine Strategie vorlegen, die zeigt, in welchen Ländern und Sektoren zusätzlichen Anstrengungen unternommen werden, um signifikante Beiträge dazu zu leisten, den Millenniumszielen möglichst nahe zu kommen. Werden die MDGs weit verfehlt, droht ein nachhaltiger Legitimationsverlust für die internationale Entwicklungszusammenarbeit. Die Glaubwürdigkeit der deutschen Entwicklungspolitik hängt auch davon ab, ob der von der Bundesregierung zugesagte Stufenplan zur Erhöhung der entwicklungspolitischen Investitionen eingehalten wird.

2. Globale Systemrisiken

Globale Systemrisiken wie die Instabilität der internationalen Finanzmärkte, der die Stabilität des Erdsystems bedrohende Klimawandel, scheiternde Staaten, grenzüberschreitende Pandemien oder die Fragilität weltumspannender Infrastrukturen können die global vernetzte Welt destabilisieren. Entwicklungsländer sind besonders anfällig für die Wirkungen globaler Systemrisiken.

Die nächste Bundesregierung sollte ein Konzept zur Bewältigung zentraler globaler Systemrisiken erarbeiten. Die dazu notwenigen Global Governance-Initiativen sollten auch in Kooperation mit Entwicklungsländern erarbeiten werden. In einer global vernetzten Welt hilft ein "360 Grad-Blick", der Erfahrungen aus Europa und den OECD-Ländern, Asien, Afrika, Lateinamerika bündelt, globalisierungstaugliche Lösungen zu erarbeiten. Der globale Wandel lässt sich ohne eine engere Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern nicht bewältigen.

3. Knappheit strategischer Güter

Die Entwicklungspolitik muss Antworten auf die Knappheiten strategischer Güter finden. "Peak soil, water, oil, athmosphere" drohen die Entwicklungschancen vieler armer Länder zu unterminieren. Analog zu den MDGs, die Entwicklungsziele auf Länderebene festlegen, sollte ein Bündel der wichtigsten "globalen Entwicklungsziele” formuliert werden, um die Existenzgrundlagen der Menschheit und insbesondere ihrer vulnerabelsten Gruppen zu schützen. Es geht z. B. um den Erhalt weltweiter Agrarflächen, die zur Welternährung notwendig sind; die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 2 Grad; quantitative Festlegungen auf steigende Anteile erneuerbarer Energien an der Weltenergieproduktion; klare Grenzen für die Zerstörung der globalen Wälder und Ökosysteme.

4. Entwicklungsstrategien

Entwicklungspolitische Leitbilder müssen neu ausgerichtet werden. Einige Beispiele: Ernährungssicherungspolitiken und landwirtschaftliche Strategien sollten unter den Bedingungen steigender Weltbevölkerung, des Klimawandels, der Angleichung von Ernährungsmustern in Schwellenländern an die landintensiven Ernährungsgewohnheiten der Industrieländern und der Nachfrage nach Bioenergie stark aufgewertet werden, um Nahrungsmittelkrisen in den Griff zu bekommen.

Nicht nur die Industrie-, sondern auch die Mehrzahl der Entwicklungsländer müssen umgehend low carbon-Entwicklungspfade einschlagen, weil bis Mitte des Jahrhunderts die Treibhausgasemissionen pro Kopf weltweit ein Niveau von etwa 1,5 Tonnen nicht überschreiten dürfen: China emittiert schon heute knapp 5 Tonnen, aber auch für Schwellen- und Entwicklungsländer wie Chile, Thailand, Mexiko, Peru, Indien, Syrien und Marokko gilt: Treibhausgasemissionen rasch stabilisieren, reduzieren und bis 2050 die Ökonomien weitgehend dekarbonisieren.

Eine nachholende Wohlstandsteigerung auf der Grundlage fossil getriebenen Wachstums ist nicht mehr möglich, weil sie zu gefährlichem Klimawandel führt. Bildung, Innovation, Technologie-, und Wissenspartnerschaften müssen in der Entwicklungspolitik einen höheren Stellenwert bekommen, wenn es gelingen soll, die Existenzgrundlagen menschlicher Zivilisation (Wasser, Ernährung, Energie) zu sichern. Investitionen in die Stärkung von Demokratie müssen weiter ausgebaut werden, damit Entwicklungsfortschritte bei den Menschen ankommen. Die Entwicklungspolitik muss zudem Schlussfolgerungen aus den Anstrengungen der vergangenen Dekade, schwache Staaten zu stabilisieren, ziehen: was hat funktioniert, was nicht?

5. Klimaschutz

Die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen, die im Dezember 2009 stattfindet, ist aus entwicklungspolitischer Sicht von herausragender Bedeutung. Nur wenn ein Durchbruch in Richtung einer nicht-fossilen Weltwirtschaft gelingt, hat das Projekt der weltweiten Armutsbekämpfung eine Chance. Scheitert der Weltgipfel zur Zukunft des Erdsystems, wird sich die Entwicklungspolitik der Zukunft auf mehr Armut, Umweltkatastrophen, Konflikte und Migration einstellen müssen.

6. Ankerländer

Die deutsche Entwicklungspolitik hat die besonderen Anforderungen an die Kooperation mit Ankerländern wie China, Indien, Brasilien, Thailand, Malaysia, Südafrika auf die Agenda gesetzt und deren Bedeutung für globale Entwicklung betont. Die Bundesregierung muss nun dafür sorgen, die deutschen Politiken gegenüber diesen strategisch wichtigen Ländern zu verstärken. Die transatlantisch geprägte G8-Welt gehört der Vergangenheit an; neue Partnernetzwerke müssen entwickelt werden.

7. Multilaterale Entwicklungsorganisationen

Wegen zunehmender globaler Interdependenzen müssen multilaterale Politikansätze an Bedeutung gewinnen. Doch die multilateralen Entwicklungsorganisationen genießen oft keinen guten Ruf, kurzsichtige Rufe nach "deutschen Lösungen" werden wieder lauter. Notwendig ist eine strategische Sicht auf die multilateralen Entwicklungsorganisationen, um an deren Reform wirksam mitzuarbeiten. Deutschland verfügt hier über Gestaltungspotentiale – im europäischen Verbund ließen sich viele Reformen wirksam anstoßen.

8. Europäische Union

Innerhalb der wichtiger werdenden G20 kristallisiert sich eine neue G2 heraus: die USA und China werden die zentralen Akteure globaler Entwicklung. Europa kann seine weltweiten Mitgestaltungsansprüche nur realisieren, wenn die Mitgliedsstaaten ihre Kräfte bündeln: dass gilt in der Handels- und Währungspolitik längst; in der Entwicklungspolitik dominiert demgegenüber noch Kleinstaaterei und unübersichtliches Nebeneinander. Die nächste Bundesregierung sollte die Frage nach einer gemeinsamen, deutlich "kompakteren" europäischen Entwicklungspolitik laut stellen.

9. Zersplitterung der deutschen Entwicklungspolitik

Die deutsche Entwicklungspolitik hat sich in den vergangenen Jahren viel mit sich selbst beschäftigt. Im Zentrum standen die nicht mehr zeitgemäßen Zersplitterungen unterschiedlicher Formen der finanziellen, technischen und personellen Zusammenarbeit. Hier sind alle Argumente ausgetauscht. Nun müssen Entscheidungen gefällt werden, um die Kraft auf die eigentlichen Aufgaben konzentrieren zu können.

10. Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit

In der Öffentlichkeit gibt es viel Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit. Deren Nutzen wird in Frage gestellt. Zwei Dinge sind hier wichtig: Zum einen müssen die Anstrengungen zur Überprüfung der Wirksamkeit der Zusammenarbeit weiter ausgebaut werden: klare Ziele, faire Partnerschaft, Erfolgskontrollen und Evaluierung sind hier die Stichworte. In Ländern mit schlechter Regierungsführung ist Entwicklungskooperation im weiteren Sinne oft kaum möglich, aber humanitäre Hilfe und die Unterstützung von Akteuren des Wandels wichtig.

Zum anderen muss Realismus und Fairness in die entwicklungskritische Debatte. Entwicklungspolitische Investitionen sind oft Risikoinvestitionen. Versuche, fragile Staaten zu stabilisieren, können scheitern, Demokratieförderung braucht einen langen Atem, zu viel Geld kann manchmal auch die Eigeninitiative von Eliten in den Entwicklungsländern schwächen, doch viel Geld ist nötig, um die erbärmliche Situation von über einer Milliarde absolut armer Menschen zu verbessern und die Grundlagen der globalen Zivilisation zu erhalten. Wer gute Vorschläge hat, die hier bessere Lösungen aufzeigen, sollte diese formulieren, statt sich in zynischer Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit zu flüchten.

Der Entwicklungspolitik geht es wie der Gesundheits-, der Arbeitsmarkt- oder auch der Innovationspolitik bei uns zu Hause. Schwierige Probleme sind zu lösen, einfache oder optimale Lösungen gibt es nicht, Experimente können scheitern, mächtige Interesse können nicht-intendierte Wirkungen erzeugen. Konstruktive Kritik ist daher wichtig, flapsige Absagen an internationale Kooperation sind verantwortungslos.

Und ein letzter Gedanke: in die Rettung der Hypo Real Estate (HRE) hat die Bundesregierung etwa 100 Mrd. Euro investiert, soviel wie alle Industrieländer gemeinsam jährlich für die internationale Entwicklungskooperation ausgeben, um die Lebensbedingungen der zwei Milliarden Ärmsten auf der Erde zu verbessern und die globale Lebensgrundlage zu schützen. Die HRE gilt als "systemrelevant", dies sollte auch für die vulnerabelsten Gruppen der Weltgesellschaft gelten.

© Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn.

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