Berlin. - 33 Jahre nach seiner ersten größeren Indien-Reise hat der Bonner Agrarwissenschaftler und epo.de-Mitarbeiter Uwe Kerkow den Subkontinent erneut bereist. Er berichtet von einem im wirtschaftlichen und politischen Aufstieg begriffenen Schwellenland, in dem sich vieles drastisch verändert hat, manches aber auch nach drei Jahrzehnten vertraut und unverrückbar erscheint. Entwicklungspolitik Online hat den Fachjournalisten gebeten, seine Eindrücke in einer dreiteiligen Serie niederzuschreiben. Im 1. Teil ging es um die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die den Subkontinent näher an den Rest der Welt rücken, und um die High-Tech-Nation Indien. Im 2. Teil besucht er Kolkatta (Kalkutta) mit seinen Tempelanlangen, Parks und kolonialen Überbleibseln. Und er sieht eines der größten Lebewesen auf dem Planeten.
Teil 2: Kolkata
Kalkutta – heute Kolkata genannt - galt lange als tot, als erstickt, nicht modernisierbar. Doch auch hier geht die Entwicklung weiter. Der Flughafen ist neu, mittlerweile existiert eine Nord-Süd-U-Bahnlinie, die ihren Betrieb Sonntags aber erst um 14:00 Uhr aufnimmt. An einer Verlängerung und an einer Ost-West-Verbindung, die einmal unter dem Fluss durchgehen soll, wird gebaut. Die alte Howrah-Brücke über den Hogli-Fluss, das berühmte Nadelöhr, hat drei Schwestern bekommen. Außerdem wurde ein neues Banken- und High-Tech-Viertel aus dem Boden gestampft, "Salt Lake City". Und wo es irgend möglich ist, entstehen Hochhäuser, in denen man Wohnungen ab (umgerechnet) 50.000 Euro aufwärts kaufen kann. So billig Arbeit in Indien immer noch ist – Bauland ist in den großen Städten praktisch unbezahlbar.
Im Stadtbild Kolkatas fallen am meisten die Lauf-Rikschas auf, die es tatsächlich immer noch gibt und die beileibe nicht nur nostalgischen Zwecken dienen. Auch Fahrradrikschas gibt es immer noch die Menge - oft mit Ladefläche statt mit Sitzbank. Sogar ein Straßenbahnnetz ist weiterhin in Betrieb. Der Grund, warum - zumindest in Kolkata und West Bengal - so viele Gebäude so heruntergekommen aussehen, hängt übrigens mit der Grundsteuer zusammen, die natürlich auch hier je nach Wert der Immobilie erhoben wird. Allerdings fließen bei der Bemessung des Steuersatzes auch Kriterien zum Zustand des Hauses ein. Die Folge: Wer renoviert, wird bestraft, weil danach mehr Grundsteuer fällig wird, da der Wert des Hauses ja gestiegen ist. So macht sich dann der Unsinn einer dämlich gestalteten Eigentumsbesteuerung im ganzen Stadtbild bemerkbar.
KULTURMETROPOLE, STADT DER BILDUNG, PREISWERT UND PRAGMATISCH
Das Chowringhee-Viertel in Kolkata ist eine schöne Mischung eines zentral gelegenen Großstadtquartiers, das im Windschatten der großen Neuerungen ziemlich organisch zu wachsen scheint. Es gibt kleine Straßentempel, ein- bis achtstöckige, dicht gedrängte Häuser, dazwischen koloniale Architektur, einen riesigen Markt (New Market), Kirchen und die ehemalige Zentrale der Feuerwehr von Kolkata, die (einschließlich des Schriftzugs) ganz im Stil der 20ger Jahre gebaut ist. Auch das Indian Museum liegt hier; es war aber leider wegen Umbauarbeiten geschlossen - "until further notice". Begrenzt wird das Ganze von einer Durchgangsstraße, auf deren gegenüberliegender Seite sich ein Stadtpark (Maidan) anschließt. Hinter dem Park fließt der Fluss.
Als langjähriger Regierungssitz von Britisch-Indien hat Kalkutta einen Ruf als Kulturmetropole und Stadt der Bildung. Sie verfügt über eine eigene Filmindustrie, die seit Jahrzehnten auch für unabhängiges Autorenkino bekannt ist. Zudem gilt die Stadt als preiswert und pragmatisch. Die Bengalen können aber auch ganz schön durchtrieben sein: Außer in Kolkata muss wohl keine US-Botschaft auf der Welt auf einer Ho-Chi-Minh-Straße residieren. Die Bengalen haben die Straße nach der amerikanischen Niederlage einfach umbenannt – die Rache des kleinen Mannes. Dazu muss man wissen, dass West-Bengalen – wie Kerala im Süden des Subkontinents - lange Jahrzehnte von Linksparteien regiert wurde.
Wendet man sich von Chowringhee nach Norden und passiert das zentrale Verwaltungsviertel (B.B.D.-Bagh), kommt man zur Hogli-Brücke, die die Engländer sie 1943 gebaut haben; auch um besser Truppen nach Burma befördern zu können. Diese Brücke ist ein Symbol wie die Brooklyn- oder die Golden Gate Brücke. Dabei geht es allerdings weniger um Fernweh als vielmehr um eine Verkörperung städtischer Gegebenheiten und Kultur. Auf der anderen Seite liegt Howrah, in dessen Zentrum ein gigantischer Bahnhof rumort. Von dort gehen die meisten Züge ab, die nach Indien hineinfahren. Da der größte Teil von Bengalen heute ja Bangladesch ist, ist Kolkata von seinem Hinterland abgeschnitten. Deshalb haben die Bahnhöfe auf der östlichen Seite des Flusses keine so große Bedeutung. Wer von Howrah aus über die Brücke zurückschlendert, kann auf dem Rückweg noch einen großen Blumenmarkt entdecken, der sich vom Brückenkopf aus an der Bahnlinie entlang zieht.
DER NORDEN
Einen sehr schönen Ausflug kann man zu zwei Tempelanlagen im Norden der Stadt machen. Am einfachsten ist es, von Howrah aus in einen Bus zum Stadtteil Belur Math zu steigen. Das Bussystem in Kalkutta ist auch für Menschen, die nicht Hindi oder Bangla sprechen, recht gut zu bewältigen. Zudem ist es – wie der ganze ÖPNV in der Stadt – extrem preiswert. Eine Fahrt kostet umgerechnet zwischen fünf und zehn Eurocent. Dafür sitzt man oft länger in solch einem Fahrzeug, als man es angesichts der eigentlich recht kurzen Strecken für möglich gehalten hätte. In Belur Math gibt es ein bedeutendes Zentrum der Ramakrischna-Sekte. Das ist eine hinduistische Reformbewegung, die im 19. Jahrhundert gegründet wurde, um dem alten Glauben etwas aufklärerischen Wind einzuhauchen. Die Bedeutung der Frauen liegt der Bewegung sehr am Herzen und auch soziale Anliegen vertreten sie. Das Kastensystem wird dagegen nicht in Frage gestellt. Die Stimmung in der sauberen Anlage, die auch eine Uni und ein Krankenhaus sowie eine ganze Reihe weiterer Einrichtungen beherbergt, war angenehm und das Ganze fast ohne Straßenverkehr recht leise und erholsam.
Der Kali-Tempel am Abend
Die andere Tempelanlage liegt auf der anderen (östlichen) Seite des Flusses und beherbergt 12 Shiva-, einen Krischna- und einen Kali-Tempel. Auch dieses Ensemble ist neuzeitlich (etwa 150 Jahre alt), und seine Errichtung wurde von der Witwe eines steinreichen Großgrundbesitzers (Zamindar) bezahlt. Während die Russen ihre Leibeigenen in Seelen gezählt haben, scheint im Indien des 19. Jahrhunderts eine Zählung in Dörfern üblich gewesen zu sein. In "Rajmohan’s Wife" einer 1865 erschienenen Novelle, ist jedenfalls davon die Rede, dass ein Erbe lediglich aus "zwei oder drei elenden Dörfern" bestanden habe. Erfreulicherweise sind beide Anlagen mit Minifährbooten verbunden, was eine nervige Tour durch unvermeidliche Staus erübrigt. Stattdessen schaukelt man im Schneidersitz auf dem einzigen Holzdeck eines kleinen Bootes über den Fluss, nur begleitet vom Glucksen der Wellen, den ängstlich-fröhlichen Kommentaren der Mitreisenden und dem Tuckern des Dieselmotors. Auf der anderen Seite trifft man dann jede Menge "devotees" in Festtagsstimmung an; indische Mittelklasse, die unbeschwert Erfrischungen genießt, Kleinkram knabbert und sich an den Andenkenständen umtut.
DER SÜDEN
Auch wenn man sich von Chowringhee aus nach Süden wendet, gibt es viel zu sehen – einiges davon ist sogar fußläufig zu erreichen. So kann man zum Beispiel einen Spaziergang die Nehru-Road hinunter machen, die den Maidan, den Stadtpark begrenzt. Am südlichen Ende dieses riesigen Parks gibt es eine ganze Reihe von Sehenswürdigkeiten: Das Victoria Memorial ein Überbleibsel kolonialer Überheblichkeit könnte ruhig eingestampft oder den Armen als Behausung überlassen werden. Interessanter ist da schon die zentrale Kirche (natürlich St. Pauls Cathedral), ein neugotischer kolonialer Betonbau mit Stahldach. Es lohnt, sich drinnen einmal umzusehen, weil dort viele Briten – und einige wenige Inder – begraben liegen: Beim Lesen der Grabplatten gibt es interessante Einsichten in die koloniale Gemütsverfassung. Einen Besuch wert ist das Birla-Planetarium und die Kunstakademie. Birla ist (wie Tata) eine der steinreichen Familien Indiens. Der Milliardär hat nicht nur das Planetarium errichten lassen, sondern vor allem auch den Zeiss-Projektor ("mega-optical device") bezahlen können, der da drinnen seit über 50 Jahren Dienst tut. Der Vortrag war eher langweilig; eine Art Kurzvorlesung in der Astronomie des Sonnensystems mit schlechten Dias und einem längeren Exkurs über den Mars –natürlich unter Erwähnung der indischen Magalyaan-Marsmission.
Fast direkt daneben befindet sich die Kunstakademie, die drei Ausstellungsräume beherbergt. In einem lief eine Gruppenausstellung von Künstlern aus Kolkata; ein buntes Sammelsurium, das nur wenige Highlights aufwies. In einem anderen Raum hingen Bilder von Kindern und Jugendlichen. Diese Werke waren immer dann überzeugend, wenn der je eigene Ausdruck der jungen KünstlerInnen durch die antrainierten Konventionen durchbrach. Im dritten Raum stellte eine Künstlerin aus, die mittlerweile in den USA lebt. Sie präsentierte überwiegend sehr schöne Arbeiten, die von einem entsprechenden Publikum sicher weltweit goutiert werden.
Mit der Metro sind es vom Chowrighee-Viertel nur etwa 15 Minuten Fahrt zum berühmten Kali-Tempel im Süden der Stadt. Bestimmt kennen viele LeserInnen das Bild der pechschwarzen Göttin mit den schräg stehenden, blutunterlaufenen Augen und der riesigen Zunge. Von der Metrostation Kalighat (ghat: Ufer, Treppe, Abhang) aus ist es noch ein Fußweg von rund einem Kilometer. Der Tempel selbst ist neu, vergleichsweise unauffällig und liegt inmitten von Häusern.
Ebenfalls im Süden der Stadt – aber auf der westlichen Seite des Flusses (also südlich von Howrah) liegt der Botanische Garten. Doch hier wurden gerade alle Teiche ausgebaggert und es sah in etwa so aus, als sollte eine neue U-Bahn-linie durch das Gelände gezogen werden. Immerhin gibt es dort aber ein Wäldchen, das aus einer einzigen Würgefeige (Banyam) hervorgegangen ist. Deren Luftwurzeln haben immer neue Ableger gebildet, so dass der ganze Hain heute aus einem einzigen Baumindividuum besteht. Es handelt sich dabei – neben riesigen Pilzen, die gigantische Geflechte im Erdboden bilden und den berühmten Sequoia-Bäumen an der kalifornischen Küste – sicherlich um eines der größten Lebewesen auf dem Planeten.
Der erste Teil der Reportageserie von Uwe Kerkow handelte von den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die den Subkontinent näher an den Rest der Welt rücken, und von der High-Tech-Nation Indien. (Red.) > Teil 3
Fotos © Uwe Kerkow
Uwe Kerkow ist freier Journalist und lebt in Bonn.