Neu Delhi. - In kaum einer Branche sind so wenige Frauen vertreten wie in der Softwareindustrie. Doch es gibt sie, die indischen Programmiererinnen. Sie werden unterschätzt, mit offenem Sexismus konfrontiert und selten unterstützt. Die Gründerin der NGO "Feminist Approaches to Technology" erklärt, was sich in der IT-Welt ändern muss.
Seit ihrem 16. Geburtstag, haben ihre Eltern sie unter Druck gesetzt, zu heiraten. Doch wenn sich die Familie eines potenziellen Ehemannes zu Hause vorstellte, hat Renu Arya das Tablett mit dem Tee absichtlich fallen gelassen und sich so schlecht wie möglich benommen, um sie zu vergraulen, berichtet die 22-Jährige. Schon früh hat sie verstanden, dass sie als Mädchen ganz anders behandelt wurde als ihr Bruder. Sie wurde ständig kontrolliert und ihr Interesse an Technik und Computern haben die Eltern belächelt. Das sei nichts für Mädchen. Ihre Eltern sind nicht die Einzigen, die so denken. Mädchen und Frauen haben in Indien seltener Zugang zu Computern und Mobiltelefonen und es wird weniger in ihre Ausbildung investiert. In einigen Fällen ist das eine Frage der Ressourcenverteilung, denn Söhne werden in dem religiösen und konservativen Land bevorzugt. In anderen Fällen verbieten die Männer es einfach, um Kontrolle auszuüben. Sie wollen nicht, dass Frauen durch Internet und Telefon unbeaufsichtigten Kontakt zu Männern haben. Wenn Mädchen der Umgang mit Technik verweigert wird, hat das auch Auswirkungen auf die Universitäten und den Arbeitsmarkt: Das Geschlechterverhältnis an den hoch renommierten Technischen Universitäten (IITs) des Landes liegt bei 11:1 und der Anteil weiblicher Angestellter im IT-Sektor liegt bei 30 Prozent.
Die Informationstechnologie (IT) ist eine der führenden Branchen sowie das wichtigste Exportgut Indiens geworden. Hunderte von indischen und ausländischen Unternehmen beschäftigen mehr als drei Millionen Mitarbeiter. Der Umsatz der Branche betrug 2015 laut NASSCOM, dem Dachverband der indischen IT-Industrie, 146 Milliarden US-Dollar. In der IT-Branche wird gut verdient, Programmierer werden sehr geschätzt. Ein Abschluss an einem der IITs gilt als Job-Garantie. Mehr Geld und Ansehen ermöglichen Unabhängigkeit von der Familie. Das ist besonders für Frauen attraktiv. Aber die wenigen Frauen in der Branche haben noch einige Hindernisse zu überwinden: Sie müssen sich sexistische Kommentare anhören, sind zum Teil sexueller Belästigung ausgesetzt und werden kaum gefördert.
Bei der Alphabetisierung hinken Frauen von Anfang an hinterher. Auch wenn es inzwischen Fortschritte gibt, ist grade in Indien der Anteil von Frauen, die nicht lesen und schreiben können, noch immer wesentlich höher als der der Männer. Programmieren und der sichere Umgang mit Computern sind das Lesen und Schreiben des 21. Jahrhunderts. Es droht eine zweite Alphabetisierungslücke zwischen Männern und Frauen.
Besonders sichtbar ist dies an den IITs. Die Anzahl der weiblichen Studierenden ist in den letzten fünf Jahren sogar gesunken – unter den erfolgreichen Bewerbern waren nur neun Prozent Frauen. Die Aufnahmeprüfungen für die IITs sind sehr hart: Wer sich ernsthaft bewerben möchte, fängt im Alter von 10 bis 15 Jahren mit den Vorbereitungen an privaten Coaching-Instituten an. Frauenrechtsorganisationen werfen den IITs vor, die sozialen Verhältnisse Indiens nicht ausreichend zu berücksichtigen.
Eine Kritikerin ist Gayatri Buragohain, Gründerin und Geschäftsführerin der Organisation „Feminist Approach to Technology“ (FAT). „Coaching Institute sind ein großes Geschäft, die Vorbereitung für die IITs dauert Jahre und kostet natürlich Geld. Wer investiert so viel in ein Mädchen? Frauen bekommen ja nicht einmal eine Grundschulbildung. Die Anzahl der Frauen, die überhaupt an der Aufnahmeprüfung teilnehmen, ist schon sehr niedrig und diejenigen, die sich genauso gut vorbereiten konnten wie die Männer, sind noch weniger.“ Wenn Firmen ernsthaft daran interessiert wären, mehr Frauen einzustellen, müssten sie ganz unten anfangen und den Zugang von Mädchen zu Computern und Bildung fördern. Daran arbeitet Buragohains Organisation FAT seit sechs Jahren.
"Technologie ist ein großer Machtfaktor. Wir müssen fragen: Wer kontrolliert Technologie? Es sind Männer, meist weiße Männer. Die Macht, was aus Technologie wird und was damit gemacht wird, liegt bei ihnen. Warum brechen wir dieses Monopol nicht auf?" Diese Fragen haben Buragohain dazu gebracht, sich mit Feminismus und Technologie auseinanderzusetzen. Sie war überrascht, kaum etwas zu dem Thema zu finden. Generell wurden Frauen vor allem im Rahmen von "ICT4Development" dazu ermuntert, Technik zu nutzen. Das ging Buragohain aber nicht weit genug.
Frauen sollten Technik und deren Nutzen selbst bestimmen und definieren. "Der Diskurs um Frauen und Technik war vor allem von den USA und Europa dominiert. Frauen sollten Technik benutzen, um zum Bruttosozialprodukt beizutragen und dem Markt als qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung zu stehen", so Buragohain.
"Für mich geht es um mehr als das Recht auf Arbeit und Teilhabe am Wachstum. Für wen ist Technologie gemacht? Wie können Frauen davon sinnvoll profitieren? Wer entscheidet, wozu und wie Technik genutzt wird?" So erklärt die junge Frau, die in einer konservativen Familie in Assam aufgewachsen ist, wie sie sich auf die Suche nach einem feministischen Ansatz zu Technologie machte. Dadurch entstand auch der Name der Organisation, die sie 2007 aus der Taufe hob. Das erste Projekt „Young Women´s Leadership Programm“ begann 2010 damit, Computerkurse für Mädchen aus Delhi anzubieten.
Daran hat auch Renu Arya teilgenommen. "Der Kurs geht ein Jahr, aber ich habe ihn in zehn Monaten abgeschlossen“, berichtet sie stolz. Mittlerweile studiert sie, lebt alleine in Delhi und ist nicht verheiratet worden. "FAT hat mein Leben verändert. Ich bin nicht mehr von meiner Familie abhängig und ich weiß, dass ich als Frau alles machen kann, was ich will, und dass die Technik mir dabei hilft.“ Mit FAT hat sie Theaterstücke über Feminismus und Technik in die Kommunen gebracht. „Mit den Stücken zeige ich, wie das Patriarchat den Zugang zu Computern und Handys verhindert."
Das Programm läuft seit sechs Jahren erfolgreich und hat viele Vorbilder in den Kommunen hervorgebracht. Die 14- bis 24-jährigen Frauen lernen, wie sie selbstbestimmt Computer, Internet, Film und Fotografie dazu nutzen können, um ihre Rechte durchzusetzen. Mädchen, die vorher überhaupt keinen Zugang zu Technik hatten, sind die Zielgruppe. Durch das Internet können sie sich austauschen und über ihre Rechte informieren und mit Film und Fotografie ihre Situation zeigen und wiederum im Internet verbreiten. Damit sei der Zugang zu Technologie endgültig als wichtiges Frauenrechtsthema anerkannt, freut sich Gayatri Buragohain.
Foto: © fat-net.org