rsfBerlin. - Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan am 15. August 2021 ist die Medienlandschaft um mehr als ein Drittel geschrumpft. 39,6 Prozent aller Medien wurden eingestellt. 59,7 Prozent der Medienschaffenden arbeiten nicht länger in ihrem Beruf. Das geht aus einer Erhebung von Reporter ohne Grenzen (RSF) hervor. Besonders betroffen sind Journalistinnen: Drei Viertel von ihnen wurden arbeitslos; in elf Provinzen arbeiten gar keine weiblichen Medienschaffenden mehr.

"Der Journalismus in Afghanistan blutet aus", sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. "Die Taliban haben zahlreiche Gesetze erlassen, die die Pressefreiheit einschränken und die Verfolgung und Einschüchterung von Medien sowie Journalistinnen und Journalisten begünstigen. Medienschaffende können nur ihre Arbeit machen, wenn die Taliban endlich ihre Repressionen einstellen."

Vor der Machtübernahme der Taliban gab es 547 Medien in Afghanistan. Ein Jahr später haben 219 ihre Arbeit eingestellt. Von den 11.857 Journalistinnen und Journalisten, die bis zum 15. August 2021 in den Medien arbeiteten, sind jetzt nur noch 4.759 übrig – weniger als die Hälfte. Journalistinnen sind von Arbeitslosigkeit besonders stark betroffen: 76,2 Prozent haben ihren Job verloren oder gaben ihn aus Angst vor den Taliban auf.

In elf von 34 afghanischen Provinzen arbeiten nun gar keine Frauen mehr: Badghis, Helmand, Daikundi, Ghazni, Wardak, Nimroz, Nuristan, Paktika, Paktia, Samangan und Zabol. Von den 2.756 Journalistinnen und Medienmitarbeiterinnen, die es vor der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gab, sind nunmehr 656 übrig. 84,6 Prozent arbeiten in der Region der Hauptstadt Kabul.

Häufig werfen die Taliban Frauen im Journalismus "unmoralisches Verhalten" vor oder ein Verhalten, "das den Werten der Gesellschaft widerspricht", so RSF. Dieser Vorwand diene dazu, Journalistinnen kleinzumachen und sie unter Druck zu setzen, bis sie ihren Beruf aufgeben. Die islamistische Weltsicht habe inzwischen dazu geführt, dass Frauen im Fernsehen ihr Gesicht bedecken müssen.

"Ich habe sieben Jahre lang für Radio Hamseda in der Provinz Takhar gearbeitet. Schon vor der Rückkehr der Taliban bin ich eingeschüchtert und bedroht worden, so wie die meisten Frauen im Journalismus. Aber mit dem Einmarsch der Taliban in unsere Stadt am 8. August hat sich die Lage verschärft", begründete die Journalistin Bibi Khatera Nejat ihre Flucht ins Exil nach Pakistan. "Als Erstes haben die Taliban unsere gesamte Ausstattung zerstört und den Sender geschlossen. Also bin ich mit meiner Familie nach Kabul geflohen. Als auch dort die Taliban einfielen, haben wir das Land verlassen. Wir sitzen jetzt seit einem Jahr in Pakistan fest – in einer aussichtslosen wirtschaftlichen Situation. Botschaften antworten nicht, wenn wir versuchen Visa zu beantragen, um in ein anderes Land zu kommen. Die internationale Gemeinschaft hat uns vergessen."

Andere Journalistinnen wollen nicht aufgeben. So wie Meena Habib, die Direktorin von RouidadNews, einer in Kabul ansässigen Nachrichtenagentur, die sie selbst nach dem 15. August 2021 gegründet hat. "Ich wollte mein Land nicht verlassen, ich wollte weiter informieren und das nicht aufgeben, was wir in den vergangenen 20 Jahren geschaffen haben", sagte sie RSF. "Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren für Frauen immer schon hart, aber jetzt blicken wir in eine ungewisse Zukunft. Diejenigen Journalistinnen, die überhaupt noch arbeiten können, tun das für niedrigste Gehälter. Wir arbeiten mit leerem Magen in einem sehr feindlichen Umfeld – ohne Schutz. Organisationen, die sich in Afghanistan für den Schutz von Medienschaffenden einsetzen, werden von Männern geführt und setzen sich folglich auch nur für Männer ein."

Die Repressionen des Regimes haben beide Geschlechter im Journalismus schwer getroffen. 7.098 Medienschaffende haben ihren Job verloren. Mehr als die Hälfte davon (54,5 Prozent) sind Männer. Von den 9.101 Journalisten, die vor der Rückkehr der Taliban in den Medien arbeiteten, sind 4.962 nicht mehr journalistisch tätig. Dies korreliert mit dem deutlichen Rückgang an Medien als Folge der Unterdrückung, aber auch der tiefen wirtschaftlichen Krise in dem Land.

Die afghanische Medienlandschaft wurde massiv ausgedünnt. Zwar haben sich seit der Rückkehr der Taliban an die Macht vier neue Medien gegründet; dem steht aber die große Zahl an Medien gegenüber, die innerhalb eines Jahres geschlossen wurden. Die meisten Medien gibt es noch in der Provinz rund um die Hauptstadt Kabul. Mit 133 Medien hatte Kabul vor dem Regimewechsel die vielfältigste Medienlandschaft. Heute gibt es in Kabul noch 69 Medien.

Nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen gingen in Afghanistan innerhalb eines Jahres rund 700.000 Jobs verloren. 97 Prozent der Bevölkerung werden bis Ende des Jahres unterhalb der Armutsgrenze leben. Diese Faktoren verstärken die Auswirkungen der neuen drakonischen Vorschriften für Medienschaffende und der Nichteinhaltung des Pressefreiheitsgesetzes.

Seit dem 15. August 2021 wurden mindestens 80 Journalisten für unterschiedlich lange Zeiträume und teils auf sehr brutale Weise festgenommen, vor allem seit Anfang 2022 zumeist vom Geheimdienst Istikhbarat. Aktuell sind drei Journalisten in Afghanistan inhaftiert. Die Taliban werfen ihnen vor, die Sicherheit des Landes gefährdet zu haben. Nur einem von ihnen wurde der Prozess gemacht: Der Dichter und Journalist Khalid Qaderi, der für Radio Norroz in Herat arbeitete, wurde am 7. Mai von einem Militärgericht zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Mirza Hassani, der Eigentümer von Radio Aftab in der Provinz Daikundi, wurde am 22. Mai festgenommen, der Reporter Abdul Hanan Mohammadi von der Nachrichtenagentur Pajhwok aus der Provinz Kapisa am 12. Juni. Beide warten in Gefangenschaft auf ihren Prozess. Seit dem 15. August 2021 hat RSF zudem mindestens 30 Fälle dokumentiert, in denen Medienschaffende während ihrer Arbeit gezielte Gewalt durch die Sicherheitskräfte erfahren haben.

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist es RSF zusammen mit anderen Akteuren der Zivilgesellschaft gelungen, fast 200 Medienschaffende in Sicherheit zu bringen. Die größte Gruppe erreichte Deutschland: 159 Medienschaffende plus deren Familien. Damit ist die Rettung fast aller Personen abgeschlossen, die im vergangenen Jahr Aufnahmezusagen der deutschen Bundesregierung erhalten hatten. Von 80 besonders gefährdeten Medienschaffenden, die auf einer vom Internationalen RSF-Sekretariat in Paris an die französischen Behörden übermittelten Liste standen, erreichten bislang 25 Frankreich. Die spanische Sektion konnte 12 Medienschaffende aus Afghanistan herausholen.

2012 stand Afghanistan auf der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 150 von damals 179 Staaten. 2021 war das Land dank einer dynamischen Medienlandschaft und der Einführung von Gesetzen zum Schutz von Medienschaffenden auf Platz 122 von 180 Staaten gestiegen. Dieses Jahr ist Afghanistan auf Platz 156 abgerutscht – nachdem fast 40 Prozent aller Medien den Betrieb eingestellt haben und die Hälfte der Journalistinnen und Journalisten das Land verlassen hat.

Quelle: www.reporter-ohne-grenzen.de


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