Berlin (epo.de). - Die gegenwärtigen Strategien zur Beendigung von Kriegen und bewaffneten Konflikten setzen zu sehr auf militärische Lösungen, statt die Gesellschaften zu mobilisieren, um eine legitime und funktionierende Staatlichkeit wieder aufzubauen. Kriege wie die in Afghanistan und Pakistan seien "durch militärische Schlachten und Truppenverstärkungen nicht zu entscheiden", heißt es im
Friedensgutachten 2009 der fünf führenden wissenschaftlichen Institute für Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, das am Dienstag in Berlin veröffentlicht wurde. Die Forscher fordern "ein starkes ziviles Engagement in Konflikten statt eines Einsatzes militärischer Mittel". Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul begrüßte die Aussagen des Gutachtens.
"Die meisten gegenwärtigen Kriege lassen sich nicht ohne legitime und funktionierende Staatlichkeit an der Basis der Gesellschaft nachhaltig beenden", konstatieren die Forscher im Friedensgutachten 2009, das in diesem Jahr vom Institut für Entwicklung und Frieden (
INEF) der Universität Duisburg-Essen federführend herausgegeben wurde. Die Schauplätze dieser Kriege und Gewaltkonflikte seien "schwache oder gescheiterte Staaten". Umkämpft seien aber die Gesellschaften. "Es geht um politische Ordnungsvorstellungen und um die politische Unterstützung durch die Bevölkerung. Militärische Gewalt ist dafür selten kriegsentscheidend."
KONFLIKTE GRÜNDLICH MISSVERSTANDEN
Die Forscher beklagen, dass trotz einer internationalen Debatte um "neue Kriege" oder "failing states" immer noch unterstellt werde, dass mehr Truppen zu mehr Sicherheit führten und sich Kriege durch militärische Überlegenheit beenden ließen. "Die Betonung militärischer Machtmittel überspielt häufig nur die politische Konzeptionslosigkeit", werfen die Wissenschaftler der Akteuren auf der internationalen Ebene vor. "Strategien zur Kriegsbeendigung müssen vielmehr die politischen Integrations- und Entscheidungsprozesse der jeweiligen Gesellschaften umgestalten. Die Kriege im Nahen und Mittleren Osten, im Sudan und im Kongo werden gründlich missverstanden, wenn man sie primär als militärische Auseinandersetzungen betrachtet."
"Die Kriege in Afghanistan und Pakistan sind durch militärische Schlachten und Truppenverstärkungen nicht zu entscheiden", warnt das Friedensgutachten 2009. Schwache oder fehlende staatliche Institutionen und der Zusammenbruch gesellschaftlicher Regelungsmechanismen verursachten ein Vakuum, das die Taliban und andere Aufständische füllen.
"Die Gewalt in Afghanistan und Pakistan kann nur beendet werden, wenn eine bürgernahe Staatlichkeit aufgebaut wird, deren Leistungen die Bevölkerung anerkennt", sind die Friedensforscher überzeugt. Ein wirksames und faires Rechts- und Polizeiwesen sei dafür entscheidend. "Die Bundesregierung sollte die Übergewichtung des Militärischen in Afghanistan aufgeben und der Stabilisierung der Atommacht Pakistan Vorrang einräumen."
URSACHEN DER PIRATERIE BEKÄMPFEN
Die Experten übten auch massive Kritik am internationalen Marine-Einsatz gegen Piraten vor der Küste Somalias. Statt militärischer Mittel müssten die Ursachen der Piraterie bekämpft werden, nämlich die illegale Überfischung der Küstengewässer durch internationale Fischfangflotten und die illegale Verklappung von Giftmüll.
Die industrialisierte Fischerei nutze die fehlende Zentralgewalt in Somalia aus. Deshalb müssten auch andere "ordnungsschaffende Akteure" in Lösungsansätze einbezogen werden, so die Forscher unter Anspielung auf die islamischen Gerichte in Somalia, die zeitweilig für eine gewisse Sicherheit für die Zivlibevölkerung gesorgt hatten.
OBAMA BEIM WORT NEHMEN
Das Friedensgutachten fordert zudem Fortschritte bei der atomaren und konventionellen Abrüstung. "Die Ankündigung Präsident Obamas, sich für eine Welt ohne Atomwaffen einzusetzen, setzt unversehens Forderungen auf die Tagesordnung, die wir seit Jahren erheben", so die Forscher. Diese "historische Chance" gelte es zu nutzen. "Wir fordern Bundesregierung und Europäische Union auf, zur Umsetzung dieser Vision die atomare und konventionelle Abrüstung vorantreiben. Mit einer Rolle als Zaungast ist es nicht getan. Das gilt ebenso für die Bemühungen, die Friedensprozesse im Nahen und Mittleren Osten, im Kongo und im Sudan voranzutreiben."
Die europäischen Regierungen sollten aus der Sicht der fünf führenden Friedensforschungsinstitute in Deutschland gegenüber Washington auch auf die rechtsstaatlich einwandfreie Auflösung aller völkerrechtswidrigen Gefangenenlager, besonders in Guantanamo und Baghram (Afghanistan), drängen und durch die Bereitschaft zur Aufnahme entlassener Gefangener "ihren Teil dazu beitragen, dass am Ende dieses dunklen Kapitels im 'war on terror' die Würde des Menschen wieder zählt".
"Unter heutigen Bedingungen müssen Strategien zur Kriegsbeendigung auf jeden Fall beinhalten, dass sie Lebensgrundlagen sichern, Köpfe und Herzen der Bevölkerung gewinnen, ihre Sicherheitslage verbessern und Störenfriede isolieren", sagte Jochen Hippler vom Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen (INEF). "Legitime staatliche Institutionen und glaubwürdige Demokratisierung sind dafür zentral."
BMZ UNTERSTÜTZT FORDERUNGEN
Die deutsche
Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) unterstützte die Forderungen des Friedensgutachtens 2009. "Das Friedensgutachten zeigt, wie wichtig die Unterstützung der Entwicklungsländer gerade in der Finanzkrise ist", sagte die Ministerin am Dienstag in Berlin. "Den Entwicklungsländern brechen Exporteinnahmen, Rücküberweisungen von Migrantinnen und Migranten in ihre Heimatländer sowie private Investitionen weg; auch der Klimawandel führt in vielen Entwicklungsländern zu starkem Anpassungsdruck. Wir müssen deshalb gerade jetzt zu unseren Zusagen stehen, sonst riskieren wir eine Verschärfung der innerstaatlichen Konflikte in Entwicklungsländern."
Die Entwicklung in Afghanistan, Pakistan, im Kongo und im Sudan zeige eindrücklich, "dass es stets teurer und schwieriger ist, Kriege zu beenden, als rechtzeitig ihre Ursachen zu bekämpfen", betonte die Ministerin. "Entwicklungspolitik ist die kostengünstigste Friedenspolitik und schafft langfristig Sicherheit. Wir müssen menschenwürdige Lebensbedingungen schaffen, Dialogprozesse zwischen Konfliktparteien fördern und frühzeitig die Ursachen von Konflikten bekämpfen, damit die Menschen erst gar nicht zu den Waffen greifen."
Es sei "unverständlich, dass die Weltgemeinschaft noch immer jedes Jahr mehr als 1,2 Billionen US-Dollar für Waffen und andere Rüstungsgüter ausgibt und nur ein Zehntel davon weltweit für Entwicklung", sagte Wieczorek-Zeul.
Das Friedensgutachten wird seit 1987 vom Bonn International Center for Conversion (BICC), der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und vom Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen (INEF) herausgegeben.
Fotos: (1) Cover Friedensgutachten © INEF (2) Women and children are widely impacted by the conflict in Afghanistan © Khaled Nahiz/IRIN Friedensgutachten 2009LIT Verlag Münster, ISBN: 978-3-643-10087-0
www.friedensgutachten.de www.bmz.de