Sao Paulo (epo). Hupende Autos mit rot-weißen Fahnen ziehen langsam durch S?o Paulos Finanzzentrum. Ein Fahnenmeer umspült die Bühne hinter den Absperrungen, auf der sich begeisterte Redner mit einer Musikgruppe abwechseln. Fernsehteams stehen bereit. Ordner in roten Kitteln bilden ein Spalier. Die noble Avenida Paulista, wo sonst Fußballmeisterschaften oder Jahreswechsel gefeiert werden, ist in dieser kühlen Frühlingsnacht fest in der Hand der "petistas", wie die Aktivisten der Arbeiterpartei PT heißen.

Um halb elf brandet Jubel auf: Marta Suplicy ist eingetroffen, die große Siegerin der diesjährigen Kommunalwahlen. Die blonde Politikerin trägt ein rotes PT-Trikot mit der Listennummer 13 und der Aufschrift "Ehrlichkeit" auf dem Rücken. In wenigen Sätzen dankt sie dem erwartungsvollen Parteivolk und stellt klar: "Das ist unser Sieg, aber auch der Sieg all jener, die uns in der zweiten Runde unterstützt haben."

Marta Suplicy. Foto: Gerhard Dilger

Nach monatelangem Wahlkampf wurde die 55-jährige Psychologin mit 58,5 Prozent zur Bürgermeisterin der Wirtschafts- und Bankenmetropole Brasiliens gewählt. Selbst die Zentrumsparteien PSDB und PMDB, die Brasilien in einer Koalition mit den Konservativen regieren, hatten sich für Suplicy und gegen den Rechtspopulisten Paulo Maluf ausgesprochen. Daher ist der Wahlausgang zuerst einmal als klares Votum gegen die Korruption zu verstehen.

Unregierbarer Moloch?

Maluf gilt vielen als Hauptverantwortlicher für den desolaten Zustand der Metropole. Er war in den siebziger Jahren von den regierenden Militärs zunächst als Bürgermeister, dann als Gouverneur eingesetzt worden. Damals wucherte die Stadt; täglich wanderten Tausende aus Brasiliens armen Nordosten zu. Den Bürgermeistern fiel wenig mehr ein als der Bau von immer neuen Stadtautobahnen. Doch selbst die verhinderten den permanenten Verkehrsstau nicht; gerade einmal drei U-Bahnlinien entlasten die Straßen. Entsprechend hoch ist die Luftverschmutzung und der Stress für Millionen von Pendlern.

1992 gewann Maluf die Bürgermeisterwahl, vier Jahre später folgte ihm sein Zögling Celso Pitta. Zuletzt jagte ein Korruptionsskandal den nächsten, Pitta wurde per Gerichtsurteil zwei Mal ab- und anschließend wieder eingesetzt. Die Schuldenlast verzehnfachte sich in acht Jahren auf rund 21 Milliarden DM.

Innerhalb der Stadtgrenzen S?o Paulos leben zehn Millionen Menschen, im Großraum 18 Millionen - das sind mehr als 10 Prozent aller Brasilianer. Fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts wird hier erwirtschaftet. Über die Hälfte der Paulistanos wohnt in irregulären Behausungen, oft ohne Stromanschluss, sauberes Trinkwasser oder ein hygienisches Abwassersystem. Fast 20 Prozent sind offiziell arbeitslos, jeder zehnte Analphabet. Die Kriminalität steigt, besonders in den Vierteln der Armen: Mit jährlich 60 Morden pro 100 000 Einwohnern hat die Stadt vor kurzem Rio überflügelt. Immerhin gibt es kaum noch Zuwanderer, denn verheißen wird jetzt nicht mehr "das Paradies, sondern die Hölle," wie der Schriftsteller Ign?cio Loyola de Brand?o sagt. Für ihn, der in seinen Werken apokalyptische Zukunftsszenarien von S?o Paulo entworfen hat gibt es wenig Hoffnung: "Die Korruptheit der Regierenden, die Ignoranz, die Blindheit haben uns in eine Sackgasse geführt." Nicht die Wahl werde etwas ändern, sondern bestenfalls ein afrobrasilianisches "Macumba-Ritual mit Schnaps, einem Huhn und einer Zigarre, damit uns die Götter eine Lösung zeigen."

Hoffnungsträgerin aus der Oberschicht

Die soziale Krise in Brasilien ist gleichermaßen Produkt der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben und der Dreistigkeit, mit der korrupte Politiker jahrelang die Staatskassen geplündert haben. Als bestes Heilmittel für beide Phänomene boten sich die weitgehend unverbrauchten Linkskräfte an. Daher siegte in den Kommunalwahlen vom Oktober die Arbeiterpartei nicht nur in S?o Paulo und ihrer Hochburg Porto Alegre, sondern auch in anderen Landeshauptstädten wie Bel?m, Recife, Aracaju und Goi?nia. Die mit der PT verbündete kleinere Sozialistische Partei PSB hatte immerhin vier Mal die Nase vorne. Insgesamt stellen die Oppositionsparteien nun in 12 von 26 Hauptstädten die Bürgermeister.

Die Chancen der PT bei der Präsidentschaftswahl in zwei Jahren steigen oder fallen mit der Amtsführung Suplicys in S?o Paulo. Die neue Bürgermeisterin hat schon jetzt viel getan, um der mehrheitlich konservativen Wählerschaft die tiefsitzenden Ängste vor einer "radikalen" PT zu nehmen. Dabei hilft ihr, dass sie aus einer angesehenen Industriellenfamilie stammt, ebenso übrigens wie ihr Mann, der PT-Senator Eduardo Suplicy.

Marta Suplicy - Foto: Anja KesslerBekannt wurde sie in den achtziger Jahren, als sie im Fernsehen eine Sendung für Sexualberatung moderierte. 1995 gelang ihr der Sprung ins Bundesparlament, wo sich sich für eine Frauenquote auf Wahllisten, die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und eine Strafverminderung für Häftlinge einsetzte, die sich im Gefängnis weiterbilden. Ihr Eintreten für den Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen ist im konservativen Brasilien nicht unumstritten.

Marta Suplicy. Foto: Gerhard Dilger

Innerhalb der PT galt Marta Suplicy lange als Paradiesvogel. "Marta ist der Typ von Frau, den sich ein Landarbeiter wünscht: Reich, hübsch, und sie weiß alles über Sex," sagte ein Gewerkschaftsboss über sie. Der Weitsicht des mehrfachen PT-Präsidentschaftskandidaten Luiz In?cio Lula da Silva ist es zu verdanken, dass Suplicy auch in den eigenen Reihen ernst genommen wurde: An der Parteibasis vorbei brachte er sie 1997 als Kandidatin für den Gouverneursposten in S?o Paulo ins Spiel.

Marta Suplicy steht wie keine zweite für den Wandel der PT zu einer Partei sozialdemokratischen Zuschnitts, wie sie in Europa gerade aus der Mode kommen. Wenn sie von "modernem Sozialismus" spricht, denkt niemand an Revolution, aber ebensowenig an Platitüden eines "dritten Wegs" ? la Blair oder Schröder. Denn die dringenden Reformen, auf die Brasilien wartet, sind mit neoliberalen Rezepten unvereinbar. Sollte die PT als fortschrittliche Programmpartei mit einer engagierten Mitgliedschaft demnächst den brasilianischen Präsidenten stellen - 2002 oder, wahrscheinlicher, 2006 -, wäre dies für ganz Lateinamerika ein Novum. Für den zweiten Termin hat die ehrgeizige Marta Suplicy übrigens schon ihre Ansprüche angemeldet.

Enge Spielräume

Doch davor liegt die mühselige Kleinarbeit in S?o Paulo. Im südlichen Bezirk Cap?o Redondo drängen sich über 200.000 Einwohner auf auf gut 13 Quadratkilometern zusammen. Aus ehemaligen Elendsvierteln hat sich im Lauf der Jahrzehnte eine halbwegs funktionierende Infrastruktur entwickelt. Die verwinkelten Straßen sind längst asphaltiert. Viele Menschen haben es zu bescheidenem Wohlstand gebracht und ihre Häuser Stück für Stück ausgebaut. Tagsüber würde man kaum vermuten, dass Cap?o Redondo wegen Bandenkriegen und Polizeigewalt berüchtigt ist und zusammen mit zwei Nachbarbezirken als "Todesdreieck" S?o Paulos gilt.

Bereits im Juli hatte die künftige Bürgermeisterin dort das erste von 20 Computerzentren eingeweiht, um das "digitale Analphabetentum zu bekämpfen." Das innovative Projekt sampa.org wird von Basisorganisationen betrieben und durch Spenden aus der Industrie finanziert, eine Konstellation, die Marta Suplicy auch in anderen Bereichen vorschwebt. Träger ist das Instituto Florestan Fernandes, eine der drei NGOs, der Suplicy vorsitzt. Die 300 Anwesenden, von denen die meisten nicht einmal einen Hauptschulabschluss haben, lauschten den Ausführungen Suplicys über die "New Economy" interessiert, doch in ihrem Alltag haben sie andere Sorgen.

"Immer, wenn meine Söhne zur Abendschicht in die Schule gehen, habe ich Angst", gesteht Tereza Santos Gabriel, die wochentags als Hausangestellte in einem eleganten Viertel der Oberschicht arbeitet. Ebenso wie die meisten ihrer Nachbarn ist sie schwarz. "In letzter Zeit gibt es immer mehr Polizisten, aber das macht alles nur noch schlimmer." Dunkelhäutige männliche Jugendliche sind besonders gefährdet - die Paulistaner Polizei erschießt Jahr für Jahr über 600 Unschuldige. Spiel- und Sportplätze gibt es im näheren Umkreis keine, die nächste Bibliothek liegt zwei lange Busfahrten entfernt. Schulen und Gesundheitsposten funktionieren mehr schlecht als recht.

In Cap?o Redondo erzielte Marta Suplicy eines ihrer besten Ergebnisse. Hier hofft man besonders auf die Sozialprojekte, die sie im Wahlkampf angekündigt hat. Doch nie hat sie verheimlicht, dass die Stadt pleite ist und Mittel aus der Privatwirtschaft braucht. Bei der Bundesregierung in Bras?lia möchte sie längere Laufzeiten für die Rückzahlung der enormen Schuldenlast erreichen. Finanzminister Pedro Malan, der die Auflagen des IWF zur Sparpolitik eisenhart durchsetzt, hat bereits abgewinkt.

Bleibt das Vorzeigeprojekt jeder PT-Kommunalpolitik: der "partizipative Haushaltsplan", bei dem die Bevölkerung über die Mittelvergabe mitdiskutiert und mitentscheidet. In Porto Alegre, wo die PT zum vierten Mal in Folge gewann, klappt das hervorragend. Bis es in der Megametropole S?o Paulo so weit ist, muss Marta Suplicy mit ihrem Team ein hartes Stück Arbeit leisten.

Gerhard Dilger


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